Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus meinem in 2021 erscheinenden Buch Odin, Nietzsche und der Pfad zur linken Hand.
Schauen wir uns nun als Fortsetzung vom letzten Sonntag die beiden Schattenformen des Königs an:
Der Tyrann
Der Tyrann ist die aktive Schattenform des Königs. Der Tyrann richtet also aktiv Schaden an – statt passiv, durch Unterlassen, wie der Schwächling. Der Tyrann ist herrschsüchtig, er will über alles und jeden bestimmen und entscheiden. Er ist totalitär, duldet keinen Widerspruch und keine Kritik. Er vertraut seinen Leuten nicht, er denkt, dass er alles selbst entscheiden muss. Er ist unfähig, Kontrolle abzugeben und Entscheidungen zu delegieren.
Dieser Mangel an Vertrauen zu seinen Leuten speist sich aus einem tiefsitzenden Mangel an Selbstvertrauen, der externalisiert und auf andere projiziert wird. Wie bei allen biopolaren Schattenformen ist die eine die ungesunde Überkompensation der anderen. Der Tyrann sucht seine tiefe Unsicherheit durch höchstmögliche Kontrolle und Bündelung aller Entscheidungsgewalt bei ihm zu kompensieren – der Schwächling macht das Gegenteil.
Beide sind unausgeglichen, es fehlt ihnen an Balance, sie sind nicht gut beieinander und haben ihre innere Mitte verloren. Während der König in seiner Fülle ein feines Gespür dafür hat, welche Entscheidungen er wann an wen delegieren muss, haben seine beiden Schattenformen kein Gespür dafür. Dieses feine Gespür des wohlverstandenen Königs speist sich aus seiner Selbsterkenntnis. Ihm ist bewusst, was seine Stärken und Schwächen sind. Er kennt sich selbst, er ist sich selbst bewusst. Er weiß, wann er auf Krieger, Magier und Liebhaber angewiesen ist – und deswegen bringt er ihnen das richtige Maß an Respekt entgegen, was dazu führt, dass sie ihn unterstützen und er sich auf sie verlassen kann.
Der Tyrann hingegen tyrannisiert die andere Archetypen, sich selbst und seine Mitmenschen. Deswegen wird er auch nicht mit ganzem Herzen unterstützt. Der Tyrann herrscht zwar, aber seine Tyrannenherrschaft basiert auf Repression, nicht auf Liebe und Begeisterung. Seine Leute sind ihm aus Angst gehorsam, statt ihm aus Überzeugung zu folgen. Man fürchtet ihn, aber man glaubt nicht an ihn. Das spürt der Tyrann, was seine tiefe innere Wunde aus Mangel an Selbstliebe und Selbstvertrauen immer wieder aufreißt. Weil er sich nicht vertraut, kann er seinen Leuten nicht vertrauen, weshalb sie ihm nicht vertrauen, weshalb er sich nicht lieben und vertrauen kann. Das alles macht den Tyrann wütend und bitter, und sein Machtstreben ist ein ungesundes, destruktives, stark durch Rachegelüste motiviert.
Heilung und Aufstieg zum geliebten König ist für den Tyrann – wie für alle Schattenformen – durch Selbsterkenntnis möglich. Der Tyrann muss sich und seine eigenen Grenzen und Schwächen akzeptieren – nur so kann er sein repressives Überkompensationsverhalten ablegen. Daraufhin werden die anderen Archetypen und seine Mitmenschen ihn zunehmend lieben lernen – was ihm endlich auch Selbstliebe ermöglicht und ihn und sein Reich aus der Tyrannis in die Freiheit führt.
Der Schwächling
Der Schwächling ist die passive Schattenform des Königs. Der Schwächling richtet Schaden durch Unterlassen an. Anstatt wie der Tyrann alles und jeden kontrollieren und befehligen zu wollen, will der Schwächling möglichst nichts entscheiden. Er lehnt Kontrolle und Verantwortung ab, alles ist ihm zu viel. Er möchte in Ruhe auf seinem Thron sitzen und nicht mit Problemen behelligt werden. Was gehen ihn die Probleme anderer Menschen an? Warum sollte er Verantwortung für andere übernehmen? Er will das nicht. Er hat schon genug Sorgen und Nöte im Kopf.
Und genau das ist das Problem: Wie der Tyrann kreist der Schwächling um sich selbst, ist mit seiner eigenen Unsicherheit statt mit der Sicherheit seines Königreichs beschäftigt. Statt die Dinge anzugehen und Schritt für Schritt an der Besserung des Seins zu arbeiten, zieht er sich zurück. Er lässt Krieger, Magier und Liebhaber im Stich, er will nicht führen, nicht entscheiden, keine Verantwortung übernehmen. Sein Motto ist: Wer nichts entscheidet, kann auch keine falschen Entscheidungen treffen. Wer nichts macht, kann auch nichts falsch machen.
Er möchte alle Verantwortung abgeben – sollen Krieger, Magier und Liebhaber doch machen, was sie für richtig halten! Wissen Krieger, Magier und Liebhaber nicht selbst am besten, wie sie ihre Aufgaben erfüllen? Der Schwächling denkt, dass er nicht gebraucht wird – er will das glauben, um der Verantwortung des Gebrauchtwerdens zu entgehen. Der Krieger weiss, wie man kämpft. Der Magier weiß, wie man zaubert. Der Liebhaber weiß, wie man liebt. Aber alle drei wissen nicht, wie und in welche Richtung sie miteinander zusammenarbeiten müssen. Das kann ihnen nur der König sagen. Wenn der König in seiner Schwächlingsform gefangen ist und folglich Krieger, Magier und Liebhaber seine Führung verweigert, dann spielt der Krieger den ganzen Tag planlos in der Waffenkammer rum, der Magier versinkt in seinen Büchern und der Liebhaber stürzt sich von einer Affäre in die nächste.
Ohne die Führung des Königs wissen Krieger, Magier und Liebhaber nichts mit sich anzufangen, kreisen um sich selbst und führen ein von einander abgespaltenes Eigenleben. Es fehlt ihnen die gemeinsame Aufgabe – die ihnen nur der König geben kann. Manchmal spüren Schwächlinge das, diffus und intuitiv. Dann kommen beispielsweise die klassischen guten Vorsätze fürs neue Jahr. Sobald das neue Jahr beginnt, wird alles anders! Dann geht’s runter von der Couch und rein ins Leben! Frontalangriff mit allen Kräften! Doch von diesem strohfeuerhaften Kampfgeist beseelt springt der Schwächling mittels Überkompensation in den gegenüberliegenden Schatten, in den Tyrann.
Und so scheitert die neue Frühjahrsoffensive schnell an der tyrannischen Engstirnigkeit des Oberbefehlshabers. So brechen Front und gute Vorsätze bald in sich zusammen und der unreife König springt aus dem Tyrann wieder zurück in den Schwächling, der Krieger geht wieder in der Waffenkammer spielen, der Magier zurück zu seinen Büchern und der Liebhaber in den Puff. So können Tyrann und Schwächling sich ewig miteinander abwechseln, ohne das es mal wirklich vorangeht. Nur durch Selbsterkenntnis des Königs kann dieser Schattenkreislauf beendet werden
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