Bei der Zigeunerartillerie

10. Januar 2025
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„Tri, dwa, simdesjat“, rauscht es durchs Funkgerät. „Tri, dwa, sim, null“, wiederhole ich und richte den sowjetischen 120-mm-Mörser auf das neue Ziel aus. Dann lässt der weißrussische Geschützführer die mit fünf Treibladungen ausgestattete Mörsergranate ins Rohr gleiten. Anschließend überprüfe ich, ob der Mörser noch „im Wasser“ [Anm. d. Red.: damit ist, ähnlich wie bei einer Wasserwaage, die Ausrichtung gemeint] steht und es mit dem Zahlensalat seine Richtigkeit hat. „Three, two, seven, zero, elevation same“, bestätigt der untersetzte Mann mit den dunklen Bartstoppeln. Jetzt ziehe ich das kostbare Visier ab und straffe die Abzugsleine: „Ready to fire!“ „Open se fire!“, brüllt der Weißrusse. Ich ziehe, es donnert.

Während sich diese Szene mehrfach wiederholt und sich nur die Zahlen ändern, macht ein alter Deutscher mit Rauschebart die nächsten Mörsergranaten scharf. Zuerst wird der Zünder, auf den später der Schlagbolzen trifft, mit einem Gummihammer hineingeklopft, wobei es ratsam ist, nicht zu übermütig zuzuschlagen. Danach werden die zusätzlichen Treibladungen, mit Schwarzpulver gefüllte Stoffsäckchen, um das schlanke Ende der Mine gebunden. Zuletzt wird die Schutzkappe über dem Aufschlagzünder abgeschraubt und die scharfe Granate an den Ladeschützen weitergereicht. Eigentlich bin ich der Ladeschütze, aber der Geschützführer wollte für ein paar Tage die Rollen mit mir tauschen, damit ich auch Erfahrung als Richtschütze sammeln kann. Der Kerl scheint mich zu mögen und froh darüber zu sein, jemanden gefunden zu haben, mit dem er sein Englisch trainieren kann.

Den alten Deutschen, vom Habitus Landstreicher, hat er hingegen ziemlich auf dem Kieker. Ständig staucht er ihn wegen irgendwelcher Lappalien zusammen, treibt ihn mit Beleidigungen dazu an, schneller zu arbeiten und verwirrt ihn mit teils widersprüchlichen Anweisungen, die kurz aufeinander folgen. Einmal wirft er sogar den Gummihammer nach ihm. Und trifft. Der Mann ist zwar wirklich manchmal etwas neben der Spur, aber so eine Behandlung hat er nicht verdient. Ich hätte an seiner Stelle längst das Weite gesucht. Das sage ich ihm auch, als wir alleine sind, aber er winkt ab und sagt, er habe sich schon an diesen Umgang gewöhnt. Das nehme er sich alles nicht zu Herzen.

Ausgebildet worden bin ich an einem alten iranischen 82-mm-Mörser und an jugoslawischen 60-mm-Mörsern. Das Prinzip ist aber dasselbe, nur dass man bei den kleineren Kalibern keine Abzugsleine verwendet. Mir ist der große sowjetische Mörser aus dem Zweiten Weltkrieg, den wir in Kombination mit einem moderneren bulgarischen Zweibein verwenden, mit dem sich im Gegensatz zum alten russischen Zweibein auch die Horizontalachse des Mörsers stufenlos verstellen lässt, sehr sympathisch. Man benötigt weniger Feinmotorik, um den schweren Minenwerfer ins Wasser zu bekommen und nach ein oder zwei Schuss gibt es praktisch keine durch den Rückstoß verursachte Verschiebung mehr nach links oder rechts.

Mörser sind im Gegensatz zu Haubitzen Steilfeuergeschütze mit einer eher geringen Reichweite, weshalb ihre Bedienmannschaften im Soldatenjargon auch als „Artillerie der Infanterie“ oder als „Zigeunerartillerie“ bezeichnet werden. Ihr erster dokumentierter Einsatz erfolgte im Spätmittelalter bei der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453. Während heute immer noch Mörser zum Einsatz kommen, die vor achtzig Jahren erstmals in Dienst gestellt wurden, hat es im Bereich der Munition und Feuerleitsysteme enorme Verbesserungen gegeben. So wird unser Mörserfeuer beispielsweise von Drohnenpiloten beobachtet und gelenkt.

Unsere Stellung ist geradezu idealtypisch. Sie könnte aus einem Handbuch für den Einsatz von Mörsern stammen. Das Geschütz befindet sich in einer mit Buschwerk bestandenen Schlucht, dahinter, unter einem großen Strauch, ein Unterstand und ein Munitionsdepot. Beide mannstief. Es ist eine schweißtreibende Arbeit, solche Löcher auszuheben. Anfangs trägt man noch Helm und Plattenträger, dann schaufelt man ohne Helm weiter und irgendwann liegt auch der Plattenträger neben dem Aushub. Die Rationalisierung dieses Verhaltens lässt sich wie folgt in Worte fassen: Im Loch ist man vor Schrapnellen geschützt, schlägt eine Granate hingegen im Loch selbst ein, nützen auch Helm und Plattenträger nichts mehr.

Unweit unserer Stellung befinden sich einige Sommerhäuser, sogenannte Datschen. Um nicht von feindlichen Drohnen gesichtet zu werden, verbringen wir die meiste Zeit im Erdgeschoss einer solchen Datscha. Zusammen mit einem einäugigen Kater, der von uns nach allen Regeln der Kunst gemästet wird. Dabei ist es schon Frühling und die von Seen und Tümpeln durchzogene Landschaft ist nichts weniger als malerisch. Gestört wird die Idylle aber nicht nur durch russische Drohnen, sondern auch durch ein Schild mit der Aufschrift „Minen“. Wir halten uns also lieber an den ausgetretenen Pfad zu unserem Mörser und streifen sonst wenig in der Gegend herum. Trotzdem ist es schade, dass wir die Stellung schon nach zehn Tagen verlassen müssen, weil unsere Einheit aus diesem Frontabschnitt in der Oblast Charkiw herausgelöst wird. Wir verlegen in den Donbass. Die Schlacht um Tschassiw Jar hat begonnen.

Jonathan Stumpf

Jonathan, dem der Libertarismus als geborenem Ami eigentlich in die Wiege gelegt wurde, benötigte dennoch einige Umwege und einen Auslandsaufenthalt an der Universiteit Leiden, um sich diese politische Philosophie nachhaltig zu eigen zu machen. Zuvor hatte er bereits im Bachelor auf Staatskosten zwei Semester in Rumänien zugebracht. Wie jeder Geistes- oder Kulturwissenschaftler mit Masterabschluss, der etwas auf sich hält, bewegt Jonathan etwas in unserem Land. In seinem Fall sind es Container. Er hat im Sommer 2021 als Decksmann auf einem Containerschiff angeheuert.

12 Comments Leave a Reply

  1. Kommt hier eigentlich noch eine Stellungnahme, ob katzenfreundliche „Mörder“ (zugespitzte Formulierung) vom Krautzone Magazin bezahlt werden?

  2. @JonathanAbschiebenBitte Am besten du schiebst dich mal zeitnah selbst nach Russland ab. Wer die Lipp als seriöse Quelle für irgendetwas angiebt, geht geistig und argumentativ unbewaffnet. @Jonathan Stumpf Danke für den tollen Einblick an die Front. Sehr angenehm verfasst.

  3. @JonathanAbschiebenBitte Tatsächlich erscheint von mir nächsten Monat ein Knastreport. Habe dort undercover gearbeitet.
    Zu Tschassiw Jar: Als ich dort eingesetzt war, waren die Russen noch nicht in die Stadt eingedrungen. Es ist also ganz ausgeschlossen, dass es auf russischer Seite zivile Opfer gegeben hat. Umgekehrt haben die Russen Tschassiw Jar allerdings unter Dauerbeschuss genommen. Da noch ein paar Zivilisten in der Stadt gelebt haben, könnten durchaus einige von ihnen durch russischen Beschuss der Stadt den Tod gefunden haben.

  4. Wart ihr diejenigen, die auf die unbewaffneten Zivilisten mit der weißen Flagge geschossen haben? (Siehe Video bei Alina Lipp: „Videobeweis eines Kriegsverbrechens, das von NATO-Söldnern in der Nähe der Stadt Chasov Yar begangen wurde“). Einfach eine Schande. Als nächstes bitte ein Abschiebeknastreport.

  5. Ein solcher Artikel könnte ja ruhig auch im „Spiegel“ oder „FAZ“ veröffentlicht werden.

  6. Wenn wir eine Einsendung bekommen oder Sie jemanden kennen, bringen wir den Artikel natürlich auch.

  7. Ich mag solche Geschichten. Und von meinem bezahlten Abo dürfen auch Autoren wie J.S. den ihnen zustehenden Anteil erhalten. 🙂

  8. Ich bin mir sicher, dass die Krautzone einen Artikel von dir bringen würde, wenn du als Freiwilliger auf russischer Seite kämpfen würdest.

  9. Und bitte fügt eine Funktion ein, Kommentare zu löschen. Ich wollte den ersten Kommentar nämlich eigentlich entfernen (:

  10. Kriegen Gastautoren bei der Krautzone eigentlich eine Prämie? Ich habe nämlich wenig Lust irgendwelche Knechte die auf Russen schießen, indirekt finanziell zu unterstützen (es reicht ja, dass die Regierung bereits Steuern nutzt um das indirekt zu tun).

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