Östlich der libanesischen Hauptstadt Beirut, an der das Stadtgebiet nahtlos in die Beiruter Vororte übergeht, liegt ein Viertel, welches nahezu einzigartig in der gesamten Region ist, von Syrien bis Ägypten. In jeder Straße reiht sich dort Geschäft an Geschäft, vom kleinen Lebensmittelladen über den Textilhändler bis hin zum Juwelier ist hier so gut wie jede Zunft vertreten. Abgesehen von der Hauptstraße, sind alle Straßen und Gassen dieses Viertels sehr eng. Sie erinnern an die Altstadt von Neapel oder anderen europäischen Mittelmeerstädten. Ebenso wie dort, herrscht hier ein sehr lebhaftes und geschäftiges Treiben: Passanten eilen vorbei, Taxis hupen sich ihren Weg durch den berüchtigten Beiruter Verkehr und bei den kleinen Kaffeeverkäufern stehen Anwohner, um einen kurzen Plausch zu halten. Ab und zu sieht man eine armenische Fahne von einem der Balkone wehen, oder man erblickt gar die rote Flagge der „Armenischen Revolutionären Föderation“, eine der ältesten Parteien Armeniens, die an Laternen, Balkonen oder Bäumen befestigt wurde. Der Name dieses Stadtteils ist Bourj Hammoud und ist zudem das Zentrum der armenischen Minderheit des Libanons.
Der Libanon beherbergt, noch vor dem Iran und Syrien, die größte armenische Gemeinde des Nahen Ostens. Die genaue Anzahl ist nicht bekannt, da keine Volkszählungen mehr durchgeführt werden, um das sensible Thema der Demographie nicht anzuschneiden. Für die 2010er Jahre, gingen Schätzungen von bis zu 150 000 Armeniern im Libanon aus, ungefähr 4% der Bevölkerung. In den letzten Jahren dürfte die Zahl aber deutlich gesunken sein, da viele Armenier aufgrund der wirtschaftlichen Lage das Land verlassen haben. Auch die Hafenexplosion im August 2020 spielt hierbei eine Rolle: Bourj Hammoud wurde durch ihre Wucht ebenfalls stark beschädigt. Politisch werden sie im konfessionalistischen System des Libanons mit sechs, von insgesamt 128, Parlamentssitzen vertreten. Dominiert werden diese von der bereits erwähnten „Armenischen Revolitionären Föderation“, deren Mitglieder auch als „Daschnaken“ bezeichnet werden.
Bourj Hammoud selbst, wurde in den 1930er Jahren erbaut und besitzt eine der höchsten Bevölkerungsdichten der gesamten Levante. Das Gebiet bestand einst aus Sümpfen und Marschland, welches im Besitz der christlich-libanesischen Oberschicht von Beirut war. Zu dieser Zeit siedelten aber bereits tausende von armenischen Füchtlingen in Beirut. Sie waren die Überlebenden des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs, als die osmanische Regierung nahezu die gesamte armenische Bevölkerung Anatoliens massakrierte oder auf Todesmärsche in die syrische Wüste schickte.
Armenische Organisationen begannen damit, das Marschland aufzukaufen und zu besiedeln, mit dem Ziel, den anatolischen Armeniern eine neue Heimat zu geben. Viele Straßen und Teile des Viertels wurden Städten der alten Heimat nachempfunden: „Nor Adana“ (Neu-Adana) oder „Nor Marash“ („Neu-Kahramanmaraş“). Pater Boghos Ariss, ein armenisch-katholischer Priester, sollte bei diesem Projekt zur führenden Persönlichkeit werden. Später wurde er dann der erste Bürgermeister des Viertels.
Da der Libanon bis vor kurzer Zeit ein Land war, in dem der Staat der Eigeninitiative und Selbstorganisation der Menschen wenig bis keine Hindernisse in den Weg legte, erlebte die armenische Gemeinde in der Folgezeit eine Blüte, und Bourj Hammoud wurde zum Zentrum dieser Blüte. Kirchen der Armenisch-Apostolischen, sowie der Katholischen und Evangelischen Gemeinden, wurden erbaut, armenische Schulen wurden gegründet, armenische Vereine und Organisationen pflegten das kulturelle Erbe, armenische Zeitungen und Radiosender entstanden. Zudem beherbergt Beirut die einzige armenische Universität außerhalb Armeniens.
Aktuell ist die Lage um die Gemeinde eher schlecht bestellt. Viele junge Libanesen, ob Muslime oder Christen, wollen das Land verlassen, dieser Trend macht auch vor den Armeniern nicht halt. Sollte der Libanon es schaffen, sich, wie so oft in seiner Geschichte, als Phönix aus der Asche zu erheben, werden auch Bourj Hammoud und seine Armenier einen neuen Aufschwung erleben.