Deutschlands Absturz in die Mittelmäßigkeit

9. Dezember 2024
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Mittlerweile helfen keine Nebelkerzen mehr, nahezu jedermann weiß, was die Stunde geschlagen hat. Claus Hulverscheidt, leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, faßte das Dilemma am 6. Dezember prägnant zusammen:

„Deutschland steckt in der tiefsten Wirtschafts-, Gesellschafts- und Identitätskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs.“

75 Jahre, so Hulverscheidts wehmütiger Rückblick, war die Bundesrepublik eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Das Land stieg aus Trümmern und unermeßlicher Schuld zu einer führenden Wirtschaftsmacht auf, die die besten Autos und Maschinen baute und mehr Güter in alle Welt verkaufte als irgendjemand sonst.

Und heute? Tempi passati, längst verwelkter Lorbeer. Laut aktueller EU-Umfrage des Ifo-Instituts ist Deutschland hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit Schlußlicht zusammen mit Belgien, Österreich und Zypern. Unpünktliche Bahnen, gesperrte und defekte Autobahnbrücken, aufgeblähte Bürokratie, vernachlässigter Wohnungsbau, mangelhaftes Bildungssystem, fehlende Fachkräfte, Überalterung der Bevölkerung, unkontrollierte Einwanderung, Staatsverschuldung in Höhe von 2,5 Billionen Euro, ein Sozialetat, der jährlich mehr als 50 Prozent des Haushalts verschlingt.

Während Gerhard Schröder mit seiner „Agenda 2010″ die schon damals kränkelnde Ökonomie wieder in Schwung brachte, leiteten die 16 Jahre unter Angela Merkel den endgültigen Niedergang ein. Die glücklicherweise nach drei Jahren gescheiterte Ampel-Koalition trieb eine verhängnisvolle De-Industrialisierung voran, ausgelöst durch überhöhte Energiepreise, Milliarden-Subventionen sowie hohe Steuern und CO2-Abgaben. Doch die Politik ist nicht an allem schuld. Viele Konzerne haben sich auf den Meriten der Vergangenheit ausgeruht. Die Autofirmen haben zu lange an den Verbrennern festgehalten und die von China und den USA ausgehende Elektromobilisierung verschlafen. Die Folgen sind Werkschließungen und damit der Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen. China, zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, hat Deutschland im Maschinenbau, in der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz abgehängt und sich zur Exportnation Nummer eins entwickelt.

Wie konnte all das geschehen? Hulverscheidt war in seinem eingangs zitierten Nikolaus-Artikel auf der richtigen Spur: Das Problem sei, daß sich alle eingerichtet haben im wohligen Wiederaufstiegsgefühl der Erfolgsjahrzehnte – die Politik, die Konzerne und die Bürger, die ängstlich ihren Wohlstand verteidigen und ansonsten über Work-Life-Balance und die Vier-Tage-Woche sinnieren. Das alles, die gesamte Mentalität, müsse sich ändern, wenn Deutschland in die Erfolgsspur zurückkehren wolle. Aus Verwalten müsse wieder Gestalten werden, aus Schläfrigkeit Erfindergeist und unternehmerischer Wagemut, aus individueller Bräsigkeit Engagement und persönliche Leistungsbereitschaft.

Daß der nicht nur ökonomische Niedergang ein dem demokratischen Gleichheitsprinzip innewohnendes Merkmal ist, läßt sich bei dem französischen Publizisten und Politiker Alexis de Tocqueville (1805-1859) nachlesen. Der aristokratisch erzogene Tocqueville bereiste ein Jahr lang die USA und studierte die dort entstehende neue Gesellschaft. 1835 veröffentlichte er sein bis heute berühmtes Hauptwerk „Über die Demokratie in Amerika“. In einer zusammenfassenden Schlußbetrachtung schreibt er:

„Sehr gelehrte Männer trifft man kaum, dafür aber auch kaum sehr unwissende Bevölkerungsschichten. Genie wird selten, dafür die Bildung allgemeiner. Fast alle Extreme schleifen sich ab; fast alles Hervorragende schwindet, um irgendeiner Mittelmäßigkeit Platz zu machen, die zugleich minder hoch und minder tief, minder glanzvoll und minder armselig ist, als was die Welt bisher sah. Ich lasse meine Blicke über die zahllose Menge gleicher Wesen schweifen, wo nichts sich erhebt, nichts sich senkt. Das Schauspiel dieser universellen Einförmigkeit stimmt mich traurig und kalt, und ich fühle mich versucht, die Gesellschaft zu bedauern, die nicht mehr ist.“

Angesichts der Bundestagswahl im Februar und der jeweiligen Kanzlerkandidaten ist nicht damit zu rechnen, daß in Deutschland eine grundlegende Wende bevorsteht – im Gegenteil: durch Union, SPD und Grüne dürfte das verhängnisvolle Weiter-so seine Fortsetzung finden. Und auch die regierungsfrommen Medien werden alles dafür tun, daß nur Parteien und Vertreter der „demokratischen Mitte“ ausführlich zu Wort kommen. Abweichende Meinungen werden wie bisher marginalisiert oder unterdrückt. Auch das sagte Tocqueville bereits vor 190 Jahren voraus:

„Die Öffentlichkeit besitzt bei demokratischen Völkern eine eigentümliche Macht, von der die aristokratischen Nationen sich nicht einmal eine Vorstellung machen konnten. Sie versucht nicht durch ihre Anschauung zu überzeugen, sie drängt sie auf und treibt sie – mit einem ungeheuren Druck der Massenseele auf den Einzelgeist – in die Gemüter ein. Man kann voraussehen, daß der Glaube an die öffentliche Meinung eine Art Religion, deren Prophet aber die Majorität sein wird.“

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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