EU – Bundesstaat oder Staatenbund?

28. März 2025
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Seit der Abwendung der USA von Europa muß die geopolitische Landkarte neu entworfen werden. Besonders im Westen des alten Kontinents, der fast acht Jahrzehnte unter Amerikas nuklearem Schirm stand, ist die Aufregung groß. Während Deutschland mit Schulden in Milliardenhöhe die Bundeswehr „kriegstüchtig“ machen will und die EU-Kommission für europäische Rüstungsprojekte 800 Milliarden Euro in Aussicht stellt, ist Italien zutiefst zerstritten – Grund ist das „Manifest von Ventotene“ aus dem Jahr 1941.

Wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 22. März berichtete, waren am Samstag davor in Rom Zehntausende für Europa auf die Straße gegangen. Eingeladen hatten vornehmlich liberale und linke Intellektuelle unter dem Motto „Piazza per l´Europa“ („Ein Platz für Europa“). Das historische Manifest spielte dabei eine wesentliche Rolle. Giorgia Meloni, Regierungschefin und Vorsitzende der postfaschistischen Partei Fratelli d´Italia, nahm später im Parlament kurz Stellung zur Demonstration. Dabei zitierte sie einige Passagen aus dem Manifest mit der abschließenden Bemerkung: „Das ist nicht mein Europa!“ Anschließend, so die „SZ“, kam es zu tumultartigen Szenen. Die Linke nannte es eine „Schande“, das ehrenhafte Dokument so niederzumachen. Die Rechte hingegen sprach von einem „schrecklichen Text“.

Tags darauf ging die Debatte im Senat weiter und setzte sich schließlich bis nach Brüssel fort. Dort äußerte Roberta Metsola, die Präsidentin des Europa-Parlaments, die sich eigentlich gut mit Meloni versteht, ihre Wertschätzung für das Manifest, das „die ersten Spuren der Idee eines föderalen Europas“ enthalte. In der Tat handelt es sich um eine programmatische Schrift, die drei italienische Antifaschisten unterschiedlicher politischer Richtung unter dem Titel „Für ein freies und einiges Europa“ auf der Insel Ventotene verfaßt hatten. Während der Mussolini-Herrschaft befanden sie sich seit 1939 in Gefangenschaft auf der im Golf von Gaeta zwischen Rom und Neapel gelegenen Insel. Einer der Männer schrieb den Text heimlich auf Zigarettenpapier, der Ehefrau eines anderen gelang es laut Wikipedia, im Bauch eines gebratenen Huhns das in vier Abschnitte geteilte Schriftstück aus dem Gefängnis zu schmuggeln.

In der Souveränität der Nationalstaaten sieht das Manifest, das in Italien bis heute fast wie ein Nationalheiligtum verehrt wird, die Ursache für den Zweiten Weltkrieg. Zum Erhalt von Frieden und Freiheit fordert es statt dessen die Gründung eines europäischen Bundesstaates durch eine revolutionäre Bewegung; es gilt als einer der bedeutendsten frühen Entwürfe einer föderalen Integration Europas. Im Zuge der Corona-Pandemie zitierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im April 2020 daher nicht von ungefähr im Plenum des Brüsseler Parlaments einen Auszug des Manifests und rief die Europäer zur Einigkeit auf.

Ebenfalls am 22. März veröffentlichte die „Süddeutsche“ einen längeren Essay des mittlerweile 96-jährigen Philosophen Jürgen Habermas, der die jüngst beschlossene Aufrüstung der Bundeswehr in einer völlig anderen Perspektive sehen will, „als uns die höchst spekulativen Annahmen über eine aktuelle Bedrohung der EU durch Rußland suggerieren“:

„Die Mitgliedsländer der Europäischen Union müssen ihre militärischen Kräfte stärken und bündeln, weil sie sonst in einer geopolitisch in Bewegung geratenen und auseinanderbrechenden Welt politisch nicht mehr zählen. Nur als eine selbständig politisch handlungsfähige Union können die europäischen Länder ihr gemeinsames weltwirtschaftliches Gewicht auch für ihre normativen Überzeugungen und Interessen wirksam zur Geltung bringen… Nur mit kollektiver Handlungsfähigkeit auch im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt gewinnt sie geopolitische Selbständigkeit.“

Somit gehört auch Habermas zu jenen, die zumindest im Verteidigungsbereich für einen europäischen Bundesstaat plädieren. Mit der Aussage, der Nationalismus sei „historisch längst überwunden“, erteilt er indes auch dem gegenwärtigen Europa der Nationalstaaten eine klare Absage.

Demgegenüber fordern zwei konservative Denkfabriken aus Polen und Ungarn eine grundlegende EU-Reform. Wie einem Artikel von Matthias Nikolaidis am 21. März in „Tichys Einblick“ zu entnehmen ist, haben das Budapester Mathias-Corvinus-Collegium (MCC) und das polnische Ordo-Juris-Institut einen entsprechenden Bericht veröffentlicht — in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Heritage Foundation, einer Stiftung, die den Republikanern um Trump nahesteht. Die beiden Institute kritisieren, daß sich die EU von einem Forum ökonomischer Zusammenarbeit zu einem „mächtigen supranationalen Gebilde“ entwickelt hat, das Währungen und Gerichte kontrolliert und Finanzsanktionen gegen mißliebige Mitgliedsstaaten verhängt.

„Was mit freiem Handel und Frieden begann, hat zu einer zentralisierten Machtstruktur geführt, die auf Kosten der nationalen Souveränität geht.“

Erforderlich sei eine „Rückkehr zu den Grundwerten Europas, zu Demokratie, Souveränität und Gleichgewicht“.

Die heutige EU habe ein Demokratiedefizit, weil ihre wichtigsten Institutionen nicht gewählt worden seien. Die Autonomie der Nationalstaaten werde immer mehr eingeengt; der Europäische Gerichtshof weite seine Befugnisse ständig aus. Die beiden Institute fordern daher, daß nationale Souveränität und nationale Verfassungen wieder Vorrang vor Gemeinschaftsinstitutionen haben müssen. Jeder Staat müsse selbst entscheiden, wo und wann er sich an einem engeren Verbund beteiligen wolle. Der Rat der Staats- und Regierungschefs müsse zum entscheidenden Gremium werden und nicht die durch keine Wahl legitimierte Kommission. Im übrigen, so der abschließende Vorschlag, sollte die Union umbenannt werden in „Europäische Gemeinschaft der Nationen“ (European Community of Nations, ECN).

Das Projekt einer „ever closer union“, einer immer engeren Union, geistert zwar seit 1983 durch Politik und Medien, doch die Realität sieht anders aus. Auch wenn die Ost-West-Spaltung längst überwunden und der Kontinent zumindest geographisch wieder eine Einheit geworden ist, bleibt die Weltlage unverändert: Die Europäer, ob vereint oder solitär, spielen nicht mehr in der Ersten Liga. Mochte das 19. Jahrhundert noch das britische gewesen sein, das 20. Jahrhundert war schon das amerikanische, und das 21. wird, wenn nicht das chinesische, auf jeden Fall das asiatische Jahrhundert. Zwar ist Europa ein miteinander verwandter Kulturkreis, eine einheitliche Nation mit gemeinsamer Sprache war es jedoch nie und wird es auch nie werden.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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