Unter der Rubrik „Wir sind doch alle Menschen“ schilderte die „Süddeutsche Zeitung“ am 29. November einen Solidaritätsabend, den Igor Levit und Michel Friedman in einem Berliner Hotel organisiert hatten. Beide klagten, seit dem 7. Oktober, seit dem Hamas-Massaker in Israel, hätten sie sich in Deutschland noch nie so allein und als Juden noch nie so ungeschützt gefühlt – „denn wir sind Menschen. Daß wir Juden und Jüdinnen sind, ist zweitrangig“, erklärte Friedman. Angesichts der pro-palästinensischen Demonstrationen zeigten sich Levit, Pianist, und Friedman, Autor, TV-Moderator und Rechtsanwalt, erschüttert vom Schweigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, vor allem aber ihrer vermeintlichen Freunde in der Kulturbranche.
Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist die Erschütterung, ja Verzweiflung nachvollziehbar. Wenige Tage später, ebenfalls in der SZ, gestand der Schauspieler Edgar Selge, seit dem 7. Oktober sei auch in ihm das Schweigen, „bleiern und trotzig“, anwesend:
„Mein Schweigen erinnert mich an ein anderes Schweigen – das ich gut kenne und das mir mein Leben lang zu schaffen macht. Ich meine das meiner Eltern, mit dem ich während der Fünfziger- und Sechzigerjahre konfrontiert war, ihr Schweigen zum Mord an ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern während der Nazizeit.“
Die Geschichte seiner Eltern, so der heute 75jährige, sei von deren damaligen Fehlentscheidungen und dem anschließenden Schweigen darüber geprägt. Er selbst habe dabei lange etwas verwechselt: „Sie waren nicht unfähig, zu trauern, sondern sie waren unfähig, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen.“ Dadurch sei die Trauer in ihnen ein selbstzerstörerischer, bitterer Schmerz gewesen. Um diesen Unterschied zu erkennen, habe er, Selge, ein ganzes Leben gebraucht. „Das ist genau das Schweigen, das sie mir mitgegeben haben. In diesem Schweigen ist auch ihr Sich-Schämen, sind ihre Selbstvorwürfe enthalten, auch die haben sie mir vermacht und mitgegeben“ (SZ, 2. Dezember: „Ist das Schweigen meiner Eltern auch meines?“).
Wer, wie der Autor, gleichfalls zur Nachfolgegeneration der seinerzeitigen Täter oder Mitläufer gehört, weiß nur zu gut, wovon Selge spricht. Vielleicht liegt darin auch eine Erklärung für die vermeintlich mangelnde Empathie vieler Deutscher hinsichtlich der jüdischen Ängste. Zum Schluß seines Bekenner-Artikels sprach Selge eine grundlegende Wahrheit aus, die das ewige „all-menschliche“ Geraune, auch das aus jüdischem Mund, als das entlarvt, was es ist – eine wohlfeile Lüge:
„Wir alle leben nicht in einem luftleeren, von unseren moralischen Wunschvorstellungen erfüllten Raum, sondern wir haben eine Herkunft, die uns mehr prägt, als uns vielleicht lieb ist.“
Wie wahr! Mancher wird sich noch an die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt erinnern, die 2015 auf dem Höhepunkt der von Kanzlerin Merkel befeuerten ersten Masseneinwanderung im Bundestag jubelte: „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt!“ Die Migranten würden Deutschland „religiöser, bunter, vielfältiger und jünger“ machen. Nur der zweite Satz kam der Realität ein wenig näher. In Abwandlung des berühmten Gastarbeiter-Zitats von Max Frisch ließ und läßt sich damals wie heute sagen, die Propagandisten der multikulturellen Umwandlung des Nationalstaats rufen nach Menschen, aber es kommen Syrer, Kongolesen, Afghanen, Roma, Schiiten, Sunniten, Salafisten, Verfechter von Blutrache, Ehrenmorden etc. Der „Mensch“, abstrahiert von seiner genetischen, ethnischen, geschichtlichen und soziokulturellen Herkunft sowie von sämtlichen Bezügen zu Gegenwart und Wirklichkeit, ist bloße Fiktion, eine Gattungsbezeichnung wie Tier oder Pflanze. Schon vor 200 Jahren erklärte der französische Staatsrechtler Joseph de Maistre, in seinem Leben habe er noch nie einen „Menschen“ getroffen, sondern stets nur Russen, Deutsche, Italiener oder Engländer.
Ein Gedankenkonstrukt ist auch die Vorstellung der „einen Welt“. In Wahrheit leben wir in vielfältigen globalen Räumen, geprägt durch unterschiedliche Landschaften, Klimazonen, Faunen, Floren, Religionen, Kulturen etc. Nichts außer ihrem abstrakten „Menschsein“ verbindet daher einen Eskimo mit einem Bantu, nichts einen Finnen mit einem Polynesier, nichts eine Chinesin mit einer Bolivianerin oder einen Norweger mit einem Sizilianer. Selbst im eigenen Land sind die Unterschiede zwischen einem nordfriesischen Küstenbewohner und einem Oberbayern aus dem Tegernseer Land gravierend. Töricht ist daher die oft aufgestellte Behauptung, Deutschland könne jährlich Hunderttausende von Zuwanderern aufnehmen, schließlich habe es nach 1945 sogar zwölf Millionen Vertriebene und Flüchtlinge integriert. Daß es sich bei ihnen um Landsleute, also um Menschen gleicher Zunge und gleicher Kultur handelte, wird dabei unterschlagen – auch, daß selbst jene Schlesier, Pommern und Ostpreußen keineswegs immer mit offenen Armen empfangen, sondern vielfach als „Polacken“ beschimpft wurden.
Mittlerweile steht die weitgehend unkontrollierte Zuwanderung von „Menschen“ nicht nur in Deutschland ganz oben auf der Prioritätenliste. Doch solange das individuelle Grundrecht auf Asyl Verfassungsrang hat, wird hierzulande der Kurs auf die multiethnische und multikulturelle Umwandlung der Gesellschaft ungebremst weitergehen.