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Simon Strick und die digitalen Faschisten

11. Mai 2022
in 7 min lesen

Kaum etwas ist so ermüdend wie die Auseinandersetzung mit selbsternannten Rechtsextremismusexperten. Deren systemstabilisierende Aufgabe in Funk und Fernsehen ist es, ein Bedrohungsszenario – am besten irgendwas mit Faschismus – zu entwerfen und anschließend zu kultivieren, es also durch ständige Wiederholung im kollektiven Bewusstsein zu halten. Ferner gilt es, von real existierenden Problemen abzulenken. Dies gelingt, indem man komplexe Erklärungen dafür liefert, warum sich in Wirklichkeit alles konträr zur eigenen Intuition und Wahrnehmung verhält, oder indem man die Existenz wenig wünschenswerter Phänomene schlichtweg leugnet und so tut, als würde es sich dabei um bloße Behauptungen handeln. Beobachtbare Entwicklungen und plausible Zusammenhänge werden in einer möglichst törichten Interpretation zu irrationalen Verschwörungserzählungen, die wiederum von Rechtsextremisten gezielt gestreut werden, um den Unmut derjenigen, die angeblich mit der Komplexität einer sich wandelnden Welt nicht zurecht kommen, zu kanalisieren und für faschistische Bewegungen, die derzeit noch in verborgenen, digitalen Echokammern einer erneuten Machtergreifung entgegenfiebern, fruchtbar zu machen.

Es ist das seit Jahrzehnten bemühte, immer gleiche Bild des rechten Demagogen, der in Ermangelung guter Argumente für seine lebensfeindliche Weltanschauung gar nicht anders kann, als seine Menschenfängerei auf Basis von Lügen, konstruierter Empörung oder dem Appell an Ressentiments und niedere Instinkte zu betreiben. Dieses Argumentationsmuster bedient in vorbildlicher Weise auch der Berliner Medienwissenschaflter und Genderforscher Simon Strick, Autor des Buches „Rechte Gefühle – Affekte und Strategien des digitalen Faschismus“ im HR2-Podcast „Doppelkopf“ vom 10.02.2022.

Für Leute vom Schlage eines Simon Strick, bei denen wissenschaftliche Arbeit und Aktivismus in eins fallen, ist es schlicht nicht vorstellbar, dass man die Suspendierung der Realität zugunsten linker Ideologie nicht als notwendige Entwicklung und linearen Fortschritt interpretieren kann, weswegen jeder, der damit nicht einverstanden ist, folgerichtig ein verunsicherter aber beinflussbarer Zurückgebliebener sein muss, oder jemand, der sich aktiv den proklamierten Zielen – Gerechtigkeit, Toleranz, Gleichheit – entgegenstellt; kurz ein Faschist. Ersterer muss also vor den „Desinformationskampagnen“ und „Verschwörungsmythen“ des Letzteren gewarnt und beschützt werden. Zum Glück gibt es die hellsichtigen Analysen eines Simon Strick.

Der große Austausch

Nach nur 7 Minuten und 40 Sekunden Laufzeit sind wir bei der Mutter aller „rechtsextremen Verschwörungsmythen“ angekommen: dem großen Austausch. Im Podcast stellt sich das folgendermaßen dar: Simon Strick erläutert, wie durch rechte Akteure unverdächtig alltägliche Erfahrungen abgefragt werden, um diese dann in eine Rassenlogik einbetten zu können. Der irritierte Weiße hat natürlich schon von „Diversity“ und einer „Politik von Diversity“ gehört, aber erst der Rechtsextreme weist ihn darauf hin, dass dies bedeuten würde, dass „weiße Menschen weniger vorkommen sollen“.

Strick führt aus: „Da schließt sich das Alltagsgefühl, dass man von etwas irritiert ist – was soll denn dieses Diversity sein? – sofort an eine größere Erzählung an, dass weiße Menschen verdrängt, ausgetauscht, marginalisiert werden sollen.“

Das ist natürlich Quatsch! Dass Diversity-Politik unter keinen Umständen auf Kosten der weißen Bevölkerung geht, kann man besonders gut an den geschalteten Werbeanzeigen nahezu aller großen Unternehmen, an Diversity-Quoten und an der Besetzung von Filmrollen im Jahr 2022 ablesen. Auch die zahlreichen Schlagzeilen, wonach etwa die Wiener Philharmoniker, der gesamte ÖRR und die Lehrpläne europäischer Universitäten zu weiß und zu männlich seien, weisen in keine Richtung. Es handelt sich schließlich nur um von der Meinungsfreiheit gedeckte Debattenbeiträge und Einzelaussagen. Allein die Vorstellung ist offenbar so abwegig, dass sich eine kritische Nachfrage seitens des Gastgebers und Autors dieses Radiobeitrags, Klaus Walter, erübrigt.

Brüder im Geiste

Verwunderlich ist der ausbleibende Widerspruch über die gesamte Länge des Podcasts allerdings nicht. Was für gutmütige HR2-Hörer als Gespräch zwischen einem Radiomoderator und einem Medienwissenschaftler sich darstellt, ist in Wirklichkeit die traute Einigkeit zweier Berufslinker, denn auch Journalist Walter schreibt aus feministischer Perspektive für Qualitätsmedien wie die Frankfurter Rundschau, die taz, oder die jungle world. Da keine weltanschaulichen Differenzen überbrückt werden müssen, steht dem reibungslosen Ablauf des Gesprächs nichts im Weg. Engehakt wird beim Stichwort „Austausch“.

Der imaginierte große Austausch ist der Fluchtpunkt jedweder neurechter Agitation. Es handelt sich dabei laut Strick um eine „Erklärungsformel der globalen Situation in einer rassistischen Dynamik“. Die Vorstellung, es „gäbe eine langsame Verdrängung weißer Bevölkerungsschichten in mehrheitsweißen Gesellschaften“ inklusive der Fragestellung, welche kulturellen Folgen diese Entwicklung zeitigt, sei Ausdruck von Verlustängsten und damit Kern des digitalen Faschismus, nämlich die Produktion und atmosphärische Ausdehnung von Gefährdungsgefühlen in Bezug auf den demographischen Wandel.

Realität …

Der demographische Wandel an sich ist natürlich nicht zu leugnen, das weiß auch auch Simon Strick. Betrachtet man die Bevölkerungsentwicklung in den Vereinigten Staaten, wird das sogenannte „Browning of America“ sichtbar. Stellten Weiße im Jahr 2000 noch einen Bevölkerungsanteil von 69,1%, betrug er im Jahr 2020 lediglich noch 60,1%. Tendez fallend. In europäischen Großsstädten sieht es nicht anders aus. In Frankfurt am Main liegt laut dem Melderegister von 2015 der Anteil von „Personen mit ausländischen Wurzeln“ bei 51,2% und überstieg damit erstmals die 50% Marke. Tendez steigend. Kein Wunder, denn Deutschland ist seit neuestem ein Einwanderungsland. Daran, dass die Gesellschaften des Westens – um einen abgenutzten Euphemismus zu bemühen – „vielfältiger“ werden, besteht also kein Zweifel.

Dass damit ein Bedeutungs-, Wohlstands- und Machtverlust der einheimischen Bevölkerung einhergeht, liegt auf der Hand. Wer aber seine aus linker Sicht unverdienten Privilegien nicht teilen möchte, gilt als Rassist. Umgekehrt bekommt hier der weiße Europäer die einmalige Chance sich entgültig vom Kainsmal des Kolonialismus zu befreien: nämlich durch die vorbehaltlose Affirmation dieser Entwicklung. Die interessante Frage, warum man auch abseits von hohlen moralischen Imperativen dem Verlust seiner eigenen Vormachtstellung positiv entgegensehen sollte, wird hoffentlich in kommenden HR2-Podcasts erörtert.

und Mythos

Zur lächerlichen, substanzlosen Verschwörungserzählung wird die Tatsache der massiven Einwanderung in westliche Staaten in dem Moment, in dem man eine Absichtserklärung einer bestimmten Gruppe und eine gezielte Planung dahinter vermutet. Spätestens jetzt ist die Zeit des neunmalklugen“Faschismus-Analytikers“ gekommen. Da kein offizielles Manifest samt Wikipedia-Eintrag eines Zentralkommitees zur Auslöschung der weißen Rasse existiert, haben Strick und Konsorten hier vermeintlich leichtes Spiel. Dafür, dass es weniger plump und plakativ vor sich gehen könnte und sich unterschiedliche Interessensgruppen durchaus einen Vorteil vom Abbau nationalstaatlicher Souveränität und seiner Konsequenz, der radikalen Veränderung der Bevölkerungsstruktur, erhoffen und gezielt darauf hinarbeiten, fehlt offenbar die Phantasie.

Man könnte an dieser Stelle auf das Buch „Kritik der Migration“ des Autors Hannes Hofbauer hinweisen, in dem der Autor in bester materialistischer Tradition herausarbeitet, dass die fabrizierte Konjunktur von Floskeln wie „Diversität, Vielfalt und Buntheit“ lediglich dazu dient, handfeste, wirtschaftlich motivierte Interessenspolitik auf Kosten des Arbeitnehmers ideologisch zu begleiten und zu bemänteln. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bedeutet in diesem Kontext nichts weiter als nationale Einhegungen zurückzunehmen, um von günstigen Arbeitskräften aus dem Ausland profitieren zu können. Migrationsströme sind unweigerlich die Folge und die Durchmischung respektive Ersetzung der Bevölkerung ist hier je nach Sichtweise Kollateralschaden oder gewünschter Nebeneffekt. Was für die Arbeiterklasse gilt, die sich bei zunehmender Zersplitterung schwerer formieren und mobilisieren lässt, gilt in gleichem Maße auch für jede andere Fraktion im politischen Prozess. Davon abgesehen, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet Protagonisten der postmodern linken Ideologieproduktion, die keine Gelegenheit auslässt, um zu betonen, dass „weiße Vorherrschaft“ zwingend abgeschafft werden muss, Motive hinter einer Ersetzungsmigration leugnen wollen.

Neue Deutsche?

Das AfD Plakat „Neue Deutsche? Machen wir selber!“ ist für Simon Strick ebenfalls ein klassischer Topos des digitalen Faschismus. Es sei „eine relativ platte Umformulierung des großen Austauschs, nämlich, dass neue Deutsche […] jetzt vorallem durch Migration produziert werden, dasss die Migranten überproportional viele Kinder bekommen und damit Deutschland eben überfremdet werde.“ Strick diagnostiziert hier eine direkte Linie zum Nationalsozialismus, zum „weißen deutschen Widerstand gegen die russischen Horden“.

Ihm sei an dieser Stelle die 2019 im „The Journal of Political Philosophy“ erschienene, mit EU-Mitteln geförderte Studie „The Case for Replacement Migration“ von Paul Bou-Habib, Professor an der University of Essex, empfohlen. Bou-Habib argumentiert hier, dass, wenn sich entwickelte Staaten für eine aktive Bevölkerungspolitik entscheiden, also die durch eine alternde Gesellschaft hervorgerufenen Verwerfungen durch Steuerung der demographischen Struktur kompensieren möchten, sie sich für „replacement migration“ statt für eine geburtenfördernde Politik entscheiden sollten.

„Replacement“ meint in diesem Zusammenhang nicht, dass das einheimische Volk notwendigerweise durch Einwanderer ersetzt werden müsse, sondern bezieht sich auf ein zu beseitigendes Defizit. Dabei handelt es sich in erster Linie um schwindende Beitragszahler in umlagefinanzierten Sozialversicherungen, die durch Migration ersetzt werden müssen. Gemeint ist also eher eine Auffüllungsmigration, aber die Stoßrichtung ist klar: neue Europäer sollen migrieren und nicht geboren werden!

Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Studie ist aber der abstrakt-universalistische Standpunkt, den Bou-Habib stellvertretend für die gesamte westliche Polit-Elite und nicht zuletzt auch für Simon Strick einnimmt. Der Mensch bleibt ihm abstrakte Idee, Verschubmasse, wenig mehr als eine Ziffer in einer Gleichung. Wäre es anders, ließe sich kein Argument für eine Masseneinwanderung schmieden, das hervorhebt, dass die Aufnahme des Geburtenüberschusses Afrikas und des nahen Ostens gegenüber einer Steigerung der eigenen Geburtenrate eine bessere globale Co2-Bilanz zur Folge hätte.

Natürlich können die von mir handgepflückten Kirschen nicht mehr leisten, als darauf hinzuweisen, dass gewisse Themen weitaus weniger verschwörungsmythologischen Gehalt aufweisen als Simon Strick suggeriert und sehr wohl in einschlägigen Kreisen diskutiert werden. Man könnte fast meinen, Strick projiziert das Vage der eigenen ideologischen Annahmen ins gegnerische Lager, denn das wackelige Fundament neulinker Agitation ist eine, sich in Sprache und sozialer Interaktion gründende, nicht quantifizierbare Unterdrückungsdynamik systemischer Natur. Es handelt sich hier also tatsächlich um eine gefühlte Wahrheit, die man in einem Akt der Verdrängung dem Gegner unterschiebt.

Man könnte die Vetreter seiner Zunft in der gleichen überheblichen Weise fragen, wo sich die Blaupause des patriarchalen Plans zur Unterdrückung der Frau befindet? Wo das Hauptquartier der weißen Rasse, in dem die Ausbeutung des globalen Südens koordiniert wird?

Gezwungenermaßen freiwillig!

Der Rest des Podcasts verläuft nach dem bekannten Muster: Strick stellt Tatsachen so dar, als wäre es reine Behauptungen. Am Beispiel der sogenannten geschlechtergerechten Sprache würden Rechte den „Mythos formulieren“, wonach „der Feminismus ein totalitäres Unternehmen sei, das widersinnige und widernatürliche Veränderungen des Verhaltens von oben oktroyieren würde“. Experte Strick lässt am Tonfall erkennen, dass es sich auch hier wieder um Unsinn handelt. Für den Zuhörer wäre es mit Blick auf die Studenten der Uni Kassel, die in bestimmten Kursen gendern müssen um keinen Punktabzug zu riskieren, sicherlich interessanter gewesen, zu erfahren, inwiefern es sich bei dieser Agitation im Bereich der Sprache um keinen ideologisch motivierten Übergriff, eben eine von oben oktroyierte Maßnahme handelt. Die vorhersehbare Antwort auf diese Frage würde sich in vorsätzlicher Verkennung der wirkenden (meta)politischen Kräfte und sozialen Ausgrenzungsmechanismen mit dem Hinweis darauf hinauswinden, dass es ja (noch) keine entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen gäbe. Daher sei die Unterordnung „freiwillig“ und das feministisch ausgerichtete System weder autoritär noch totalitär.

Gegen Ende kommt man schließlich doch noch ins schmunzeln. Simon Strick zeigt sich irritiert darüber, dass sich seine digitalen Faschisten zunehmend als Freiheitskämpfer im Widerstand gegen ein repressives System inszenieren, was in seinem (Selbst-)Verständnis ja eigentlich die historische Aufgabe der Linken ist. Diese kognitive Dissonanz aufzulösen, dürfte nicht allzu einfach werden, aber irgendeine komplexe Theorie, warum man nach einem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen gleichzeitig Hegemon und Underdog sein kann, wird sich schon finden lassen.

Gastautor

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