Würde man einen durchschnittlichen Sozialdemokraten fragen, was denn eine Gesellschaft eigentlich zusammenhält, so würden Zeitgeistbegriffe wie „Solidarität“, „Gerechtigkeit“ oder „Gleichheit“ fallen. Je nach ideologisiertem Gütegrad des Befragten fielen vielleicht auch Worte wie „Antifaschismus“, „Kampf gegen rechts“ oder „Weltoffenheit“. Während die drei ersten Beispiele gerade wegen ihrer Beliebigkeit leicht in der Masse der Köpfe verfangen und dort irgendwo als etwas grundsätzlich Erstrebenswertes abgespeichert werden, kommen wir mit den drei anderen Begriffen zum eigentlichen Kern des Themas, um das sich die heutige Kolumne drehen soll: Narrative.
Die drei besagten Begriffe sind zielgerichtet. Sie vermitteln wahlweise einen gewissen Grad von Militanz, der sich gegen einen zunächst einmal imaginierten Feind richtet, oder sie sind kulturpolitisch derart eindeutig gesetzt, dass sich an ihnen quasi ganz von allein die Geister scheiden. Jedenfalls tragen sie die Grundlage einer Erzählung, also eines Narrativs, in sich. „Narrative“, das wäre demnach auch die eigentlich richtige Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage gewesen: Eine Gesellschaft braucht eine Erzählung, anhand derer sie sich gründen und entwickeln kann.
Der 8. Mai beziehungsweise 9. Mai ist ein gutes Beispiel für den hohen Verdichtungsgrad einer gesellschaftlichen Erzählung. „Tag der Befreiung“, krächzte es gestern quer durch die sozialen Medien – wie mir schien, noch etwas schriller als die Jahre zuvor. Heute, wo sich hierzulande der durch das kulturpolitisch implementierte Stockholm-Syndrom aufgewirbelte Staub schon wieder legt, wird man in Russlands Hauptstadt mit protzigen Militärparaden auftrumpfen und dabei ebenfalls ein Narrativ zelebrieren. Feiern werden aber nicht die „Befreiten“, sondern die „Befreier“, in deren Reihen sich auch chinesische Soldaten einreihen werden. Die alljährliche Siegesparade im „Großen Vaterländischen Krieg“ ist 80 Jahre später zu einer geopolitischen Theaterbühne verkommen – kontrastiert wird das durch den weiterhin tobenden Ukrainekrieg, den Russland entgegen allen Erwartungen auch nach drei Jahren nicht siegreich beenden konnte.
Aber das muss nicht unsere Sache sein, es geht um Deutschland und ein Geflecht von Erzählungen, das die deutsche Gesellschaft weder vereinen konnte noch ihr eine sinnhafte Richtung aufzeigt. „Tag der Niederlage“, das ist natürlich kein Grund zum Feiern. Aber warum sollte man das auch? Zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur und sechs Jahre Weltkrieg haben eine ausgelaugte Trümmerwüste hinterlassen. Die Justiz der Sieger, die sich selbst ganz und gar nicht als „Befreier“ sahen, war hart und gnadenlos. Gestern las ich, dass Hannelore Kohl, die Frau des Altkanzlers Kohl, zum Kriegsende als Zwölfjährige von einem Mob russischer Soldaten vergewaltigt und anschließend aus dem Fenster geworfen wurde.
Das ist nur ein Schicksal unter 66 Millionen. Schätzungsweise wurden in den Monaten vor und nach Kriegsende zwei Millionen Frauen geschändet. Es sollte nicht der einzige grausame Rekord bleiben: Zwölf Millionen Deutsche wurden aus ihrer Heimat im Osten vertrieben, bis heute gilt das als die größte Völkerwanderungsbewegung in der Geschichte der Menschheit. Diese Millionen von individuellen Tragödien als „Befreiung“ zu titulieren, ist nicht einfach nur geschichtsvergessen oder gar diabolisch, es ist vollends verrückt.
Aber nicht nur das: Es ist ein Narrativ, das nur im staatlich inszenierten Theaterrahmen so etwas wie Sinnhaftigkeit vortäuschen kann.
Alles daran ist schal und abgestanden. Kein Betrachter, der ehrlich zu sich selbst ist, kann an der alljährlichen Selbsterniedrigung irgendwas erhebend oder sinnstiftend finden.
Eine wirklich erbauende Erzählung flackert in Deutschland sowieso erst ein halbes Jahrzehnt nach der totalen Niederlage auf. 1950 hat sich das geschlagene und durch die Besatzungspolitik zerteilte Volk zumindest im Westen wieder etwas gesammelt. Die Trümmer werden beseitigt, in den Fabriken wird wieder gearbeitet, der Fleiß und die Tatkraft, die dem deutschen Volk zu eigen sind, brechen sich auf wirtschaftlichem Gebiet Bahn und machen den Wiederaufbau möglich. „Wirtschaftswunder“ wird man es nennen. Das ist ein Narrativ, das verbindet und eine Richtung zeigt, denn in dieser Großerzählung lassen sich die Millionen von Einzelschicksalen einweben. Das Wohlstandsniveau erholt sich nicht nur, es wächst innerhalb weniger Jahre über alle Vorstellungen der Zwischenkriegszeit hinaus. 1955 kommen die letzten Kriegsgefangenen zurück, die Unterzeichnung der Pariser Verträge gibt der Bundesrepublik immerhin Teilsouveränität und im Jahr darauf gewinnt die Nationalelf die Fußballweltmeisterschaft.
Das populäre Bild der westdeutschen 1950er ist positiv, nicht zuletzt deswegen legt die linke Kulturpolitik viel Wert darauf, diese Phase als „rückständig“, „konsumistisch“ oder gar „altnazistisch“ zu diskreditieren. Auch mancher Rechter hadert mit den „Goldenen 50ern“. Die Kritik ist nachvollziehbar, wenn etwa auf die Exkludierung der Mitteldeutschen von diesem Mythos hingewiesen wird. Billig ist hingegen die Kritik an der angeblichen kulturellen Angleichung der Deutschen an die Amerikaner. Aus der verkitschten Retrospektive mag das so scheinen, tatsächlich waren die westdeutschen 50er noch wesentlich mehr von tradierten Vorstellungen geprägt, als man landläufig denkt. Die 68er-Bewegung entstand immerhin nicht im Vakuum.
Jedenfalls ist die „Wirtschaftswunderzeit“, diese etwa anderthalb Jahrzehnte zwischen 1950 und 1965, die letzte Phase deutscher Geschichte, aus der sich noch so etwas wie ein positives und vor allem populäres Narrativ ableiten lässt. Alles, was danach kam, ist politisiert, ideologisiert und in gesellschaftlicher Hinsicht zersetzend. Die 68er-Bewegung ist nichts, was vereint, sondern etwas, das gespalten hat. Die langen 70er zeichneten sich durch eine wirtschaftliche Stagnation aus, während die Abräumung kollektiver Wertvorstellungen munter fortgesetzt wurde. Dieser Prozess gelangte in den 80ern und schließlich 90ern zu seinem Höhepunkt. Die Wiedervereinigung trägt den bitteren Nachgeschmack der zwanghaften Zusammenführung einer zerstrittenen Familie mit sich. Die zu diesem Zeitpunkt bereits von den Linken dominierte Kulturpolitik hat sich von Anfang an darauf verstanden, Wessis und Ossis gegeneinander auszuspielen.
Ab den 2000ern dominierte dann das, was als „Schuldkult“ verschrien ist. Eine deutsche Erzählung, die schließlich zur deutschen Geschichte kristallisiert, die uns ergreift und an der wir uns ein Beispiel nehmen können? Im Moment Fehlanzeige. Aber das wird nicht auf ewig so bleiben.
Zu bedenken ist daß es einige Zeit dauert bis ein gepflanzter Samen erste Früchte trägt.
Die 68er-Zeit war nicht die Zeit der ersten Aussaat, es war bereits die erste Ernte. Zugleich aber auch ein Beispiel wie damals, genauso wie heute, anfänglich harmlose und zum Teil auch berechtigte Entwicklungen von Egomanen, Fanatikern und für ganz andere Interessen unterwandert und gekapert worden sind.
Volle Zustimmung was den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung betrifft: Es hat schon seinen perfiden Grund warum die heutige Rotzrotgrünpropaganda notorisch Freiheit zu Verantwortungslosigkeit und Egoismus vereinfacht herabsetzen will und auf diese Weise ihren Gläubigen obrigkeitsverordneten Gesamtgehorsam als vermeintlich sozial und begehrenswert vortäuscht. Es ist erschreckend wie viele quer durch alle Alters- und Bevölkerungsgruppen darauf hereinfallen und nicht selten auch noch voller Überzeugung nachplappern.
Ich muĂź Herrn Fechter zu seiner Betrachtung beipflichten und als nunmehr fast 78-Jähriger dem/der „TS“ insofern widersprechen als ich im Beitrag keine Nostalgie-Verklärung feststellen kann. Meiner Erinnerung nach – z.T. noch in der DDR erlebt – hing damals sehr viel vom Elterhaus und der nahen Umgebung ab, in der man aufwuchs bzw. sich befand. Manche der 68er – zu denen ich zumindest altersmäßig gehöre – nutzten die Nazizeit, um ihrer natĂĽrlichen jugendlichen Opposition gegenĂĽber der Eltern- und GroĂźeltern-Generation mit der Nazikeule den nötigen Nachdruck zu verleihen. Die ohne Zweifel manch fragwĂĽrden „alten Zöpfe“ nicht nur in den Unis – wie z.B. Kleidungs-, GruĂź- und Unterordnungs- Vorschriften – gingen damals auch mir richtig „auf den Senkel“. DaĂź man aber in der Ă–ffentlichkeit nicht nur deutsche Volkslieder oder Märsche sondern Jazz, Rock’n Roll und Italo-Western geboten bekam, feierte auch ich locker im Kreise vieler Kumpels und Mädchen bis in meine Bochumer Uni-Zeit hinein – und das auch mit K-Gruppen Mitgliedern, deren ideologische Verbohrtheit mich schon damals an die Erzählungen meiner Eltern aus ihren Zwangsmitgliedschaften während der Nazizeit erinnerten. Schlimm fĂĽr alle von uns ist aber, daĂź damals von den „fĂĽhrenden Intellektuellen“ gezielt der Zusammenhang von „Freiheit“ und „Verantwortung“ aufgehoben wurde, was durch die gezielte Demontage des bewährten Bildungssystem z.B. durch Figuren wie v. Hentig u.a. unterstĂĽtzt wurde. Den StartschuĂź aus dem Polit-Establishment gab dann der ökonomische Analphabet Brandt mitten in der Ă–lkrise, als er durch seine Parolen als Kanzler „mehr Demokratie“ zu wagen und die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ zu testen verantwortungslosen NGOs TĂĽr und Tor öffnete. In diese und den explosionsartig erweiterten „öffentlichen Dienst“ strömten dann die durch die „Bildungsreformen“ krebsartig vermehrten Leistungsverweigerer mit allerlei …logen-AbschlĂĽssen – später dann sogar auch ohne solche! Den wenigen wirklichen Leistungsträgern mit solchen AbschlĂĽssen wie hier in der Krautzone möchte ich mit dieser SchluĂźbemerkung nicht zu nahe treten…
Gute Zusammenfassung die aber leider an der nostalgieverklärten Wurzel krankt. Die BRD-Frühzeit der 50er und frühen 60er war mitnichten eine goldene Wunderzeit sondern Anfang allen Übels:
In dieser Zeit wurde die Hausfrauen zu InstanttĂĽtenbrĂĽhenaufbereitern umerzogen, die Landwirtschaft industrialisiert, die Dialekte als rĂĽckständig aberzogen, mithin dem stark lokal und regional verwurzelten Deutschen seine Heimat ausgetrieben. Als Ersatz wurde ihm der „American Way of Life“ gepriesen, mit seiner konsumgeilen Plastikwegwerfwelt, aber ohne Glaube und Selbstverständnis der insbesondere im Mittelwesten das moralische RĂĽckgrat fĂĽr schlechte Zeiten bildet.
Auch die Schuldkultgeißel als innerlich zersetzende Psychowaffe gegen unsere Souveränität nahm damals ihren Anfang, denn je weniger sich die Einheimischen mit ihrem Land und der Geschichte ihrer Vorfahren identifizieren können umso vehementer suchen sie nach einem Ersatz dafür.
Daß er in den letzten Jahrzehnten besonders ausufert ist letztlich nur der Demographie geschuldet, denn die Zeitzeugen welche die jüngeren Hüpfern noch darüber aufklären können welchem Unfug sie eigentlich hinterherrennen werden immer rarer.
Die Deutschen, die ja mittlerweile kein ethnisches oder abstammungsbezogenes Volk mehr sein dürfen, sollen allenthalben dennoch einer „Erbschuld“ unterworfen sein. Sie erklärt sie auf ewig zu potenziellen Nazis und Verbrechern, sobald sie nur ansatzweise ihre eigenen Interessen artikulieren. Nur ein psychotischer Hass auf die eigene Herkunft und Geschichte sowie die groteske Verklärung alles Fremden sind erlaubt. Je länger die NS-Zeit zurückliegt, desto hysterischer wird sie beschworen und umso drakonischer instrumentalisiert. Sie ist das maßgebliche Machtinstrument eines Regimes, dessen Wunschvolk aus identitätsgestörten, ungebildeten, hedonistischen Konsumjunkies besteht.