Das in diesem Land nichts mehr rund läuft, sollte jeder mitbekommen haben. Plötzlich sollen wir kalt duschen (was mir nichts ausmachen würde) und die Bibliotheken dichtgemacht werden, weil „wir“ die Stromkosten drastisch senken „müssen“ und nicht zu vergessen: Putin ist böse.
Mir reicht es. Ich habe keine Lust mehr auf dieses Gutmensch-Getue, diese Heuchelei á la „wenn wir Strom sparen, geht es den armen Ukrainern besser! / Wieso isst du immer noch Fleisch, Klara? / Wieso fährst einen Diesel und keinen E-Roller?“ Da fällt mir nur eins zu ein: Haltet die Fresse. Ich gehe dahin, wo mich keiner sieht, keiner hört und vor allem, wo mich keiner stört – in die wunderschöne Heide. Dort ist man keinem blöden Geschwafel von Lina und Sören ausgesetzt. Nein. Man ist lediglich der Natur ausgesetzt. Und das genügt in vollem Maße.
In aller Herrgotts Frühe geht es los. Ich treffe mich mit einer Freundin kurz vor dem Wald und wir treten gemeinsam unsere Wanderung an. Umgeben von riesigen Kiefern, sind wir auf alles gefasst, was auch immer auf uns zuzukommen sollte. Es verstreicht keine halbe Stunde, da ist schon das Naturschutzgebiet der Heide erreicht. Feinstes Kaiserwetter, der Himmel ist nahezu wolkenlos und strahlend blau. Die Sonne lacht mit uns um die Wette und trotz der nur schwach ins Licht getauchten Heide, genießen wir den Anblick.
Wir sehen auf unserem Weg, zu unserer Überraschung, tatsächlich noch andere Menschen. Zwei Bauern, die sich soeben um die Heidschnucken und -ziegen kümmern. Diese sorgen dafür, dass das Heidekraut nicht ausufert, sondern in Form bleibt. Damit die Wölfe sich nicht ein Schaf nach dem anderen holen, passen die Hütehunde artig auf sie auf.
Nachdem wir schon einige Kilometer zurückgelegt haben, macht sich der Hunger breit. Die Stullen warten bereits darauf, ausgepackt zu werden und zu meiner Freude, erreichen wir nach ein paar hundert Metern dutzende von Brombeersträuchern. Früher warnte man immer, alle Beeren wären vom Fuchsbandwurm befallen. Doch ich glaube, dass das schlichtweg eine Lüge war, um das gefräßiges Volk, wie mich, von den Kostbarkeiten des Waldes fernzuhalten. Darauf falle ich schon lang nicht mehr herein. Ich kann keinen Zentimeter gehen, ohne alle reifen Beeren zu pflücken. Als ich endlich satt bin, geht es mit rot und blau gefärbten Händen noch weiter in den Wald hinein.
Vergnügt summen wir alle Lieder, in denen die Heide auch nur im Entferntesten erwähnt wird. Angefangen bei EAV, mit Märchenprinz, kommen wir endlich bei Erika an: „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein … und das heißt – EEERIKA!“
Jeder Mensch, der zumindest ein wenig musikalische Erziehung genossen hat, kennt dieses Lied – oder zumindest diese Zeile. Es ist perfekt. Vollkommen. Nur zwei Mädels, die bei strahlendem Sonnenschein durch die Heide wandern und Erika trällern. Etwas surreal ist es schon, dass wir hier in so friedlicher Ruhe herumspazieren können. Denn zwischen 1950 und 1990 war hier der Luftwaffenübungsplatz. Zu dieser Zeit wurden die Kahlflächen mit Bomben und Raketen beschossen. Alle umliegenden Waldgebiete dienten derweil als Schutzzone und waren als Sperrgebiet gekennzeichnet.
Heutzutage ist die Heide frei zugänglich, die NVA gibt es schon lang nicht mehr, aber die Kahlflächen sind noch vorhanden. Zudem wurden Waldbrandschutzwege angelegt, damit mögliche Brandfälle an Ausbreitung gehindert werden können. Die Heideflächen befinden sich herrlich eingebettet, mitten im Kiefernwald, auf nährstoffarmen Sandböden, und dienen vielen Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum.
Unser Ziel rückt mit jedem getanen Schritt näher. Gegen Mittag erreichen wir den kleinen Bauernhof. Es gibt Fassbier und selbstgemachten Käse. Während wir also am Fluss sitzen, Bier trinken und Käsestullen vernaschen, denke ich mir mal wieder, wie schön (einfach) das Leben doch sein kann. Der Mensch braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Ein bisschen Natur, nette Menschen, hin und wieder das ein oder andere Bier und natürlich jede Menge Sonnenschein. Bloß gut, wenn man auf dem Lande wohnt.
Vollkommen zufrieden setzen wir unseren Waldgang fort. Wir wollen zurück durch die Heide, bis nach Hause laufen. Das schaffen wir. Allerdings nur auf Umwegen. Denn zwischendurch verlieren wir kurz die Orientierung. Ich komme mir vor wie bei Hänsel und Gretel. Wer sich zurückbesinnt, weiß, dass die Geschwister Brotkrumen streuten. Wir hingegen legen Steine als Markierung, aus Mangel an vernünftiger Beschilderung. Unsere Rettung. Nachdem der Brombeer-Pfad wieder entdeckt ist, sind wir zurück auf Kurs. Nach mehr als 22 Kilometern lichtet sich der Wald, die Dorfstraße kommt zum Vorschein.
Trotz unserer schmerzenden Füße, freuen wir uns, die stundenlange Heidewanderung auf uns genommen zu haben. Wir verabschieden uns, ich ziehe meine Schuhe aus und laufe barfuß nach Hause. Besser kann es nicht laufen. Und für alle Wanderburschen, die rummehren, dass man sich auf eine Wanderung vier Wochen lang vorbereiten muss – Ich muss „Der Waldgang“ von Jünger nicht gelesen haben, um ein Waldgänger zu sein.