Betreutes Sterben im Managerstaat

4. Mai 2025
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Neulich bin ich auf Twitter über einen Netzartikel gestoßen, der mich gleichzeitig fasziniert wie abgestoßen hat. Die „Kieler Nachrichten“ porträtierten am 27. April ein altes Ehepaar aus Düsseldorf: Die Sonntags, Annemarie und Rudolf, beide knapp über 90 und seit 70 Jahren miteinander verheiratet, führten ein unscheinbares, normales Leben. Bis zu dem Zeitpunkt jedenfalls, an dem sie sich entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Seit circa fünf Jahren erlaubt das deutsche Recht professionelle Hilfe beim Suizid, und dieses Recht nahm das Ehepaar in Anspruch.

Doch warum wollten sie unbedingt aus dem Leben scheiden? Keiner von beiden hatte eine schwere Krankheit oder ein unerträgliches Leiden zu ertragen, einen Verlust eines geliebten Menschen zu betrauern oder ist körperlich oder geistig derart eingeschränkt, dass er nicht mehr selbstständig leben könnte. Nein, vielmehr ist es eine „Lebenssattheit“ – neben der (völlig verständlichen) Angst, nach einem Sturz oder Ähnlichem in ein Krankenhaus zu kommen und dort vor sich hinzuvegetieren –, die die Sonntags in den Freitod treibt. „Und das reicht“, kommentiert Annemarie Sonntag bezüglich des bevorstehenden 70. Hochzeitstages.

Das Leben des Ehepaares war nicht unglücklich, sondern bescheiden, aber erfüllt im Rahmen der Bundesrepublik und des eintretenden neuen Wohlstandes der Nachkriegsjahre. Sie lernten sich Anfang der 50er-Jahre kennen, heirateten kurze Zeit später und bekamen zwei Kinder. Mit ihrer Arbeit konnten sie sich nach dem bundesdeutschen Leitmotiv „Wohlstand für alle“ einen gewissen Luxus aufbauen. Doch nun ist, wie gesagt, Schluss. Man habe ja alles durchlebt, und irgendwann müsse man ein Ende finden. Und was sagen die Angehörigen? Die Entscheidung kommentiert der Sohn der Sonntags, Thomas, wie folgt:

„Meine Mutter denkt, wir müssten uns doch auch freuen. […] Sie fühlt den Schmerz nicht, den wir empfinden.“

Auch die Enkelin Marie, Ende 20 und beruflich eine Event- und Projektmanagerin (als gäbe es in diesem Land nicht bereits genug „Manager“), begegnet ihren Großeltern mit Verständnislosigkeit, wohl wissend, dass sie ihre Hochzeit in diesem Jahr nicht mehr miterleben werden. Annemarie Sonntag kommentiert das Flehen ihrer Enkelin, ihre Entscheidung doch noch mal zu überdenken, mit „Marie, ich möchte aber nicht…“ und „Hör mal, in Gedanken sind wir aber [bei der Hochzeit] dabei!“ Aufbauende Worte, nicht? Schließlich dann: „[…] in diesem Fall denke ich eher an mich. Ich habe mein Leben gelebt. Ich weiß, ihr seid gesund. Was soll ich noch warten?“

Vorfälle dieser Art werden sich in den kommenden Zeiten sicherlich weiter häufen. Vielleicht gehört es, angesichts der zunehmenden Perspektivlosigkeit, Altersarmut und Vereinsamung der älteren Leute, in wenigen Jahren oder Jahrzehnten zum Alltag. Es birgt schon eine gewisse Ironie, dass der Wunsch so vieler Menschen der Vergangenheit – nämlich so lange wie möglich, eventuell sogar ewig zu leben –, in der modernen Welt zu einem für manche kaum zu ertragenden Fluch werden sollte.

Die Technologie und das Gesundheitswesen – sofern es noch funktioniert – erlauben es nun vielen Menschen, so lange zu altern, wie es unter früheren Umständen nicht denkbar gewesen wäre; gleichzeitig fehlt es dank der Sinnentleerung in der Moderne an einem Lebenstrieb, der so ein hohes Alter rechtfertigen würde. Und so rächt sich schließlich die sterile Schwärmerei, das einfache Dahinleben, die ewige Langeweile. Kombiniert mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit kann auch die Hochzeit der eigenen Enkelin nicht ausreichen, um das Weitermachen (und damit auch den Kampf mit sich selbst) zu motivieren. Der geistigen Erschlaffung eines Volkes oder einer Kultur folgt häufig auch die körperliche Erlahmung, und der Fall Sonntag steht symptomatisch für das, was noch kommen wird.

Die Statistik jedenfalls sagt Folgendes:

„Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, kurz DGHS, ist eine von drei Organisationen, die in Deutschland Hilfe beim Suizid vermitteln. Im vergangenen Jahr ist allein bei der DGHS die Zahl der ‚Freitodbegleitungen‘ um 50 Prozent gestiegen: von 418 auf 623 im Jahr 2024. Bei gut einem Fünftel, 22 Prozent, ist ‚Lebenssattheit‘ das Hauptmotiv.“

Klar, wir bewegen uns hier noch in einem dreistelligen Bereich, das ist noch nichts, aber wie gesagt: Die Zukunft sieht nicht rosig aus für ihre Erschaffer.

Und wie läuft das ab? Gibt es daran etwas Würdevolles, ein Ritual? Pah! Bitte, wir leben im schlimmsten aller Managerstaaten: der BRD. Als wäre es nicht genug, dass der erste Termin geplatzt ist, weil die Ärztin keine Zeit (!) hatte, hier der Bericht des Suizidablaufs:

„Dann, um zehn, kommen der Anwalt und die Ärztin. Sie legt eine Infusion mit dem tödlichen Mittel, die die beiden selbst aufdrehen müssen, wenn sie es so wollen. […] Um 10.35 Uhr […] sind sie tot. Der Anwalt und die Ärztin müssen dann weiter. […] Kurz darauf kommt die Polizei. Bittet alle hinaus und versiegelt die Wohnung. Eine Formalie bei unnatürlichen Todesursachen. […] Erst drei Tage später dürfen der Sohn, die Enkelin, wieder hinein.“

Mein Gott, was für eine Farce. Es gibt unter Bürokraten und Managern kein Gespür für Würde mehr. Dann doch lieber die gute alte Kugel in den Kopf, das hätte noch Geist.

Fridericus Vesargo

Aufgewachsen in der heilen Welt der ostdeutschen Provinz, studiert Vesargo jetzt irgendwas mit Musik in einer der schönsten und kulturträchtigsten Städte des zu Asche verfallenen Reiches. Da er als Bewahrer einer traditionsreichen, aber in der Moderne brotlos gewordenen Kunst am finanziellen Hungertuch nagen muss, sieht er sich gezwungen, jede Woche Texte für die Ausbeuter von der Krautzone zu schreiben. Immerhin bleiben ihm noch die Liebesgrüße linker Mitstudenten erspart…

4 Comments Schreibe einen Kommentar

  1. Wie Sie bereits erläutert haben eine erwartbare Entwicklung.
    Die Rente wurde Besteuert, Querfinanziert, das Renteneintrittsalter angehoben, der nächste logische Schritt des Managers ist eine staatlich geförderte Sterbehilfeindustrie, um die Kosten zu senken.
    Die Frage ist jedoch, wie wir uns dem gegenüber verhalten sollten.
    Ist diese Entwicklung zu begrüßen, oder im Sinne des Akzelerationismus abzulehnen.

  2. Hätte nicht vermutet, dass das „begleitete“ Sterben so würdelos abläuft, dabei lässt sich der DGHS e. V. laut Selbstauskunft diese „Dienstleistung“ mit ca. 4000 Euro bezahlen (x 2 = 8000 Euro, falls das sterbewillige Ehepaar keinen Rabatt erhalten hat).
    Aber was soll man machen, wenn man das Leben satt hat, und sich nicht sicher sein kann, ob es funktioniert, wenn man selbst Hand an sich legt?
    Zu zweit auch noch noch wesentlich schwieriger zu bewältigen als allein.
    Ich empfehle zu dem Thema als vertiefende Literatur: Manfred Stöhr, Sterbehilfe und Suizid

  3. unfassbar wie grauenhaft , damit muss auch noch geld verdient werden. Würde da schon alleine MIttel und Wege finden wenn ich mein Leben beeenden wollte, aber nur bei Schmerzen oder Krankheit. Ich sage nur vom LÖwen gefressen oder sowas wäre mir allemal lieber.

  4. Die zu beklagende Verfallserscheinung ist nicht die Sichtweise, dass das Werk vollbracht ist (im Leben einen Selbstzweck zu sehen ist schließlich eine Sichtweise des Zeitalters der Auflösung) , sondern die fehlende Kreativität, dieses sehr persönliche Vorhaben selbst zu regeln, und stattdessen Schmarotzer anzuheuern, die es geschafft haben, selbst das zu industrialisieren.

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