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Das Ende aller linksliberalen Gewissheiten

15. Januar 2024
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Es gibt keinen Zweifel: Deutschland ist in Aufruhr – genauer gesagt: der Linksliberalismus, die rotgrüne Elite, die seit Jahrzehnten alle entscheidenden Positionen in Politik und Kultur besetzt hält. Ihre hegemonialen Stellungen auf sämtlichen Regierungsebenen, in Behörden, Ämtern, Universitäten, ja selbst in den privaten Leitmedien werden zunehmend in Frage gestellt und sind zutiefst erschüttert.

Noch am 3. Januar hatte Carsten Schneider, seit 2021 Ost-Beauftragter der Bundesregierung und Staatsminister im Kanzleramt, in völliger Verkennung der Realität gefordert: „Die stille Mitte muß sich erheben!“ Nur sechs Tage später wurde ihm eine unerwartete Antwort zuteil. Angeführt von empörten Bauern und unterstützt von fast zwei Dritteln der Bevölkerung, blockierten Handwerker, Taxifahrer und Spediteure tagelang Autobahnzufahrten und wünschten lautstark die Ampelregierung an den Galgen. Was sich hier artikulierte, war keine „stille Mitte“, sondern ein Querschnitt des konservativen Mittelstands, der die finanzielle Gängelei und ideologische Rechthaberei lebensfremder Besserwisser seit langem satt hat.

Wie Carsten Schneider geht auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann fehl in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Auf dem Dreikönigstreffen der Liberalen in Stuttgart erklärte die Spitzenkandidatin der FDP für die Wahl zum EU-Parlament, 2024 sei das Jahr, „um aufzustehen. Es ist nicht das Jahr der Nationalisten. Es ist das Jahr der Demokraten.“ Wenn es anders komme, sei – so die Politikerin wenig ladylike – „die Kacke am Dampfen“ („Märkische Allgemeine Zeitung“, 8. Januar). Es irrt auch Sebastian Walter. Der Linken-Fraktionschef in Brandenburg zeigt sich zwar solidarisch mit den Demonstranten: „Ich kann die Menschen verstehen, daß sie die Schnauze voll haben von denen da oben.“ Doch seine Schlußfolgerung geht ins Leere: „Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen, denn das Vertrauen in die Demokratie ist in Frage gestellt.“

Nicht die Demokratie als solche steht in Frage, sondern ihre Form und ihre Interpretation als „liberale Demokratie“. Ob SPD, Grüne oder FDP, ob CDU/CSU oder die Linke – sie alle haben die Feinde ihrer Vorstellung von „Volksherrschaft“ längst ausgemacht: Es sind die Rechten, inkarniert in Gestalt der AfD. Für den eingangs zitierten Carsten Schneider steht fest: „Ein Teil der AfD-Wähler in Ost wie West will eine nationalistische, minderheitenfeindliche, rassistische Politik in Deutschland. Das sieht man ja auch in anderen europäischen Ländern.“ („Süddeutsche Zeitung“, 3. Januar).

Was bei unseren Nachbarn wie Italien, Frankreich, den Niederlanden, Dänemark oder Schweden vor sich geht, hat jedoch nichts mit Nationalismus und Rassismus zu tun. Da auch dort der grün-rote Liberalismus lange Zeit dominierte, gründet sich ihre Politik jetzt statt dessen auf Wiederherstellung des jeweiligen Nationalstaates, auf lange vernachlässigte Wahrnehmung der Interessen des eigenen Volkes sowie auf Beendigung der Utopie einer universellen Menschheit samt weitgehend regelloser Einwanderung. Ein typisches Beispiel für die Rückkehr zur Realität und damit zum gesunden Menschenverstand ist Frankreichs neues Einwanderungsgesetz. Es wurde in der Nationalversammlung mit Hilfe der Rechten verabschiedet. Marine Le Pen konnte zu Recht von einem „ideologischen Sieg“ ihrer Partei sprechen, denn erstmals wurde das Prinzip der „nationalen Priorität für Franzosen“ bei Sozialleistungen festgeschrieben. So sollen Krankenversicherungsleistungen für Immigranten eingeschränkt und Abschiebungen von Straftätern verschärft werden; bei Personen mit Doppelpaß wird der Entzug der Staatsangehörigkeit erleichtert, wenn sie straffällig gegenüber Polizisten werden.

Dieser Gegenschlag – „backlash“ auf neudeutsch – gegen Gleichheit und Brüderlichkeit (egalité und fraternité), zwei Grundprinzipien der französischen Revolution, hat bei Linksliberalen Entsetzen ausgelöst. „Macron verkauft seine Seele“, empörte sich die „SZ“ am 21. Dezember in einem Leitartikel. Doch auch in Deutschland ist die Zuwanderung das bislang ungelöste Hauptproblem. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellten im vergangenen Jahr 350.000 Menschen einen Asylantrag – auf EU-Ebene ein Drittel aller Anträge und im Vergleich zu 2022 eine Zunahme von 51 Prozent. Größte Gruppen unter den Antragstellern waren Syrer (104.000), Türken (62.000) und Afghanen (53.000). Diese angebliche „Bereicherung“ kostet den Staat jährlich 50 Milliarden Euro.

In Deutschland hatte Ende der Sechzigerjahre, ausgehend von philosophischen Propagandisten in den USA, der Kulturmarxismus seinen Siegeszug angetreten. Spätestens in den Neunzigern hatte er nach dem von Rudi Dutschke ausgerufenen „langen Marsch durch die Institutionen“ die letzten konservativen Bastionen in den wichtigsten akademischen Gremien und in den öffentlich-rechtlichen Medien erobert. Jetzt begannen der Angriff auf Familie, Volk und Nation sowie die ideologische und praktische Zersetzung aller herkömmlichen Einrichtungen. Nach sechzehn Jahren Merkel und zwei Jahren Scholz fordern als angebliche Fortschrittsgaranten proklamierten Prinzipien Weltoffenheit, Vielfalt, Toleranz und Inklusion ihren Tribut: eine stetig wachsende Staatsverschuldung, gefolgt von der Vernachlässigung der Infrastruktur von Brücken und Straßen bis zu Pflegeheimen und Krankenhäusern, einem ruinierten Bildungssystem und einer verteidigungsunfähigen Bundeswehr.

Der Wille, bewährte Prinzipien wieder geltend zu machen, hat nichts mit Nostalgie und spießiger Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit zu tun, die es so nie gegeben hat. Es ist vielmehr die Erkenntnis, daß Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) nicht bedeuten kann, den deutschen hart erarbeiteten Sozialstaat zum globalen Allgemeingut zu machen. Im nationalen Rahmen dient er allen Staatsbürgern, die ihn finanziell tragen und im Bedarfsfall in Anspruch nehmen können. Nur im Rahmen des Nationalstaats ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker gewährleistet. Nicht der Traum einer grenzen- und staatenlosen Menschheit, nur der Nationalstaat mit seinem Sozialwesen beantwortet die Frage nach dem Drinnen und Draußen, nach dem Mein und Dein, nur er ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung .

Durch das gegenwärtig überall zu hörende Lamento, Deutschland, EU-Europa, ja, die gesamte westliche Welt befänden sich in einer existenziellen Krise, bewahrheitet sich einmal mehr die vorsokratische Erkenntnis, das Sein allen Werdens sei die ewige Wiederkehr des Gleichen. Schließlich geschieht es nicht zum erstenmal, daß ein Welt- und Menschenbild ins Wanken gerät. Nach den utopischen Aufschwüngen des Linksliberalismus steht jetzt die Rückkehr zu Maß und Mitte auf der Tagesordnung. Daß der Zerfall der geschichtlichen Erinnerung die Ursache dieses ständigen Prozesses ist, hatte der Arzt und Philosoph Karl Jaspers bereit 1951 festgestellt. Unter dem Eindruck der beiden totalitären Diktaturen schrieb er:

„Mit der Preisgabe der historischen Kontinuität wird das Bewußtsein des Abendlandes, wird Heimat, Herkunft, Familie gleichgültig, wird das je eigne Leben gelebt ohne Erinnerung. Durch Ausbleiben der Überlieferung, durch Beschränkung der Erziehung auf das Nützliche scheint die Geschichte gleichsam abzureißen.“

Wohlan! 2024 könnte zum Beginn der nächsten überfälligen Wende werden.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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