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Die Erfindung der liberalen Demokratie, Teil 1

6. Januar 2022
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Es gibt viele Formen der Demokratie, der im antiken Athen entwickelten „Herrschaft des Staatsvolkes“: die direkte und die repräsentative Demokratie, die präsidentielle und die parlamentarische, die konstitutionelle und die plebiszitäre, die Konkordanz- und die Rätedemokratie. Auffallend ist jedoch, daß in Deutschland der Terminus Demokratie seit längerem mit dem Zusatz „liberal“ versehen wird.

Diese weltanschauliche Einordnung zielt nicht auf die allen Formen der Demokratie eigenen Merkmale wie freie Wahlen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und durch die Verfassung garantierte Freiheitsrechte, sondern auf einen politischen Paradigmenwechsel, der vor mehr als zwei Jahrzehnten eingeleitet wurde.

Und plötzlich war Deutschland liberal

Durch die Hinzufügung des Begriffs „liberal“ wird so getan, als habe das demokratische Zeitalter in Deutschland, abgesehen von der kurzlebigen Weimarer Republik, erst Ende der neunziger Jahre mit dem Amtsantritt der rotgrünen Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer begonnen. Unstrittig ist aber, daß die westdeutsche Bundesrepublik, wenn auch unter alliierter Aufsicht, seit ihrer Gründung im Jahr 1949 ebenfalls demokratisch regiert wurde. Willy Brandts 1972 ausgegebene Parole „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ konnte nur bedeuten, daß seine CDU-Vorgänger Adenauer, Erhard und Kiesinger zwar eine mehr oder weniger nationalkonservative Politik verfolgten, doch unzweifelhaft stets im Rahmen der im Grundgesetz festgelegten Spielregeln der parlamentarischen Demokratie.

Wenn unsere Regierungsform partout mit einem Etikett versehen werden soll, dann kann es eben nicht nur die liberale Demokratie geben, sondern auch eine konservative, ja, selbst eine autoritäre Version, sofern die Verfassungsnormen eingehalten werden. Worum es in Wahrheit geht, verdeutlichte Ministerpräsident Viktor Orban, als er in seinem Land 2014 die „illiberale Demokratie“ ausrief, was für Ungarn nichts anderes bedeutet als die Bewahrung des traditionellen Welt- und Menschenbildes – im Gegensatz zur Entwicklung in Deutschland.

Im Zuge der 68er-Revolution hat sich die Berliner Republik mit elitär-arroganter Volkspädagogik und einer bis heute andauernden political correctness in eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft verwandelt. Ziel ist es, diese durch Masseneinwanderung, Hofierung skurrilster Minoritäten sowie durch Umdefinition von Ehe und Familie grundlegende Veränderung mittels des Etiketts „liberale Demokratie“ als nicht mehr hintergehbare Realität festzuschreiben und ihre Gegner als Demokratie-Feinde brandmarken zu können.

Je liberaler, desto undemokratischer

Damit bewahrheitet sich einmal mehr das erst kürzlich von dem französischen Publizisten Alain de Benoist in Erinnerung gerufene Diktum des Staatsrechtlers Carl Schmitt (1888-1985), je liberaler eine Demokratie sei, desto undemokratischer werde sie. Demokratie, so Benoist in einem Interview mit der Jungen Freiheit (50/21 vom 10. Dezember), sei die souveräne Macht des verfassungsgebenden Volkes, Liberalismus dagegen die Verteidigung allein individueller Rechte.

In kurzen historischen Rückblicken soll jener Prozeß nachgezeichnet werden, der hierzulande offensichtlich seinen Höhepunkt erreicht, wenn nicht bereits überschritten hat. Zum Entsetzen der linksliberalen Protagonisten ist nämlich mittlerweile ein bürgerkriegsähnliches Szenario entstanden, das nicht zuletzt durch die hydrahaften Corona-Demonstrationen zusätzlich befeuert wird.

Daß eine Epoche zu Ende gegangen ist, erkennt man spätestens dann, wenn ihr eine Ausstellung gewidmet wird. Noch bis Ende Februar 2017 bot sich im Londoner Victoria and Albert Museum die Gelegenheit, den Beginn jener fundamentalen Umwälzung in Erinnerung zu rufen, die in Deutschland als Zeit der kulturmarxistischen Achtundsechziger firmiert. „You say you want a revolution?“ Unter diesem Titel eines Beatles-Songs ließ das V&A seit September 2016 „Records and Rebels 1966-1970“ Revue passieren.

Revolutionskitsch

Dem kulturpolitischen Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung wurde es damals bei der Rückschau „warm ums Herz“; schließlich sei es jene Zeit gewesen, in der der Vietnamkrieg mit Musik bekämpft und Minderheitenrechte erstritten wurden. Doch heute, 2017? „Die Reaktion beherrscht das Feld — sei es in Putins Rußland, Trumps Amerika oder in den stramm rechts regierten Ländern Europas.“ Dieser Entwicklung, so klagte Alexander Menden, stelle die Ausstellung keine Aufforderung zum Handeln entgegen, sondern nur ihre eigene Form der Nostalgie — den sehnsüchtigen Blick zurück.

Tja, seit den „Abendspaziergängen“ durch Dresden, zu denen sich im Oktober 2014 die ersten Pegida-Anhänger einfanden, haben auch Rechte und Konservative den Geist des öffentlich artikulierten Widerspruchs aus der Flasche gelassen. Wer in den sechziger, siebziger Jahren in der alten Bundesrepublik Aufstieg und Entwicklung der Studentenbewegung passiv oder aktiv miterlebt hat, dürfte angesichts jener Montagsdemos der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) auf manche Parallelen gestoßen sein.

So ließen sich jenseits der ideologischen Ausrichtung Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Ziels feststellen, die Meinungsmacht der Herrschenden zu brechen; auch ähnelten sich die Reaktionen des jeweiligen politisch-medialen Establishments auf die unerhörte, weil bis dato unbekannte Herausforderung.

Langhaarige Bombenleger

Ausgangspunkt der Studentenproteste waren seinerzeit die antikolonialen Freiheitsbestrebungen in der Dritten Welt, vornehmlich der Vietnamkrieg. Nach der Niederlage Frankreichs waren die USA in die Fußstapfen der einstigen Pariser Kolonialherren getreten, weil sie befürchteten, weitere Staaten Südostasiens könnten jetzt wie Dominosteine kippen und dem internationalen Kommunismus anheimfallen. Auf dem Höhepunkt des Krieges kämpften 500.000 GIs an der Seite des mit ihnen verbündeten südvietnamesischen Marionettenregimes gegen die Vietcong. Dabei machten sie sich so abstoßender Taten wie des Massakers von My Lai schuldig, daß im Westen, besonders in den USA selbst, die moralischen Zweifel an dem Einsatz immer stärker wurden.

Nur die Bundesregierung hielt damals unverdrossen an ihrer transatlantischen Vasallenrolle fest, von der sie sich bis heute nicht gelöst hat. Das Credo der Bonner Regierung lautete, die Freiheit auch West-Berlins, das ein Brennpunkt der Proteste war, werde nicht zuletzt in Vietnam verteidigt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz ließ damals mit gewerkschaftlicher Hilfe Großdemonstrationen veranstalten, auf denen er mit Aussprüchen wie „Seht euch diese Typen an!“ Stimmung gegen die langmähnigen und bewußt unbürgerlich gekleideten Studenten machte, die vielerorts aufgefordert wurden, doch „nach drüben“, also in die DDR, zu gehen.

An der Agitation gegen die „kleine radikale Minderheit“ beteiligten sich an vorderster Front die Blätter des Springer-Konzerns, die alsbald als „Lügenpresse“ ins Visier der Parteigänger der 68er gerieten. An mehreren Druckorten versuchten diese daher, die Auslieferung der Welt und der Bild-Zeitung zu verhindern — häufig auch mit Gewalt. Wie heute nach rechts, war seinerzeit das Meinungsspektrum nach links extrem eingeschränkt. Die entsprechenden Parolen der Regierenden lauteten: „Wir gewähren Freiheit der Meinung nur allen Gutgesinnten“ (Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, 1969) sowie „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ (Bundesinnenminister Werner Maihofer, 1975).

Zweierlei Maß

Nicht anders erging es Jahrzehnte später den Pegidisten. Führende Politiker sowie die öffentlich-rechtlichen Anstalten und die privaten Presseorgane, angeführt von „Qualitätsmedien“ wie Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Welt, Zeit und FAZ, schütteten wochenlang kübelweise Häme, Haß und Hetze über die Demonstranten aus. Von „Dunkeldeutschland“ und „Chaoten“ sprach Bundespräsident Joachim Gauck, von „Nazis in Nadelstreifen“ der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). Die Bundesminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Heiko Maas (SPD) sahen in der Demo-Teilnahme eine „Schande für Deutschland“, Cem Özdemir kanzelte die Protestler im Namen der Grünen als „Mischpoke“ ab. Später beeilte sich SPD-Chef Sigmar Gabriel, Kritiker der Flüchtlingspolitik als „Pack“ außerhalb jedes Diskurses zu stellen.

Wen kann es wundern, daß die derart Beschimpften es den Pöblern bald mit gleicher Münze heimzahlten? Doch natürlich maßen auch in diesem Fall die Vertreter der erneut als „Lügenpresse“ apostrophierten Medien mit zweierlei Maß. So schrieb Heribert Prantl, damals Mitglied der SZ-Chefredaktion, nach den „Volksverräter“-Rufen gegen Angela Merkel und andere Teilnehmer der Feier zum Tag der Deutschen Einheit Anfang Oktober 2016: „Nein, Schmähungen gehören nicht zur Meinungsfreiheit.“

Richtig. Jedoch kann niemand bestreiten, daß die heute so beredt beklagten Haß- und Wutreden damals ihren Anfang nahmen. Es waren nicht Pegida-Anhänger, sondern Mitglieder sämtlicher seinerzeit im Bundestag vertretener Parteien und deren Claqueure in Presse, Funk und Fernsehen, die ihr Weltbild und ihre politische Deutungsmacht wanken sahen.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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