Die Türen der Hochschule öffnen sich. Ich trete heraus. Endlich kann ich diese nervige Maske abnehmen. Ein Blick auf die Uhr verrät: 20:35 Uhr ist es bereits. Eigentlich sollte der Unterricht schon vor zwanzig Minuten zu Ende sein, aber wie üblich habe ich mich mit K. noch ein wenig festgequatscht.
Nichts Besonderes, gewiss, er macht seine politisch korrekten Floskeln, ich nicke so gut wie alles mit wenigen Worten ab, ahnend, dass jeder tiefgründige Widerspruch nur zu einem zwischenmenschlichen Bruch mit dem eigenen Professor führen muss – ein Umstand, der mein Studium nur unnötig beeinträchtigen würde.
So sehr ich ihn sowohl auf persönlicher als auch auf fachlicher Ebene zu schätzen weiß, sein Dogma, für westdeutsche Akademiker typisch „grün“, ist unumstößlich. Einig sind wir uns aber immerhin darin, dass Gitarren aus den Kirchen verbannt gehören – also was diese typisch amerikanische Popmusik für Jesus angeht, versteht sich, klassische Gitarrenmusik im Konzert ist nach wie vor willkommen. Und überraschend impfskeptisch ist er auch – aber, das sei hier noch einmal ausdrücklich betont, natürlich kein Querdenker.
Leicht müde begebe ich mich zur Wohnung von A. Keine fünf Minuten Fußweg sind das, schon stehe ich vor seiner Tür. Ich betätige die Türklingel. Durch die Gegensprechanlange fragt mich mein Kommilitone auf Englisch – sein Deutsch ist miserabel –, wer denn da sei.
„Ich bin es“, antworte ich. Ich hatte A. am Tag zuvor versprochen, dass ich morgen kommen würde. Also hier bin ich.
„Ah, schön!“ Sein russischer Akzent ist kaum zu Überhören. „Weißt du, wir haben eine kleine Party hier oben. Warte, ich komme runter!“. Wenig später öffnet er die Tür. Als wir die Treppe zum dritten Stock hinaufgehen, frage ich ihn, wie er das Konzert von V. heute fand. „Wundervoll…“
Ich kann nur zustimmen. Es war der erste Teil ihres Masterkonzerts, und einer ihrer besten Auftritte.
„Weißt du“, fährt A. fort, „sie ist heute hier. Viele vom Konzert heute sind hier.“ Ein wenig überrascht, aber zufrieden schaue ich ihn an. Üblicherweise machen wir nach jedem Konzert, vor allem wenn es ein Bachelor- oder Masterkonzert ist, eine kleine „Aftershow-Party“. Veranstaltungsort ist dabei eigentlich ein Italiener in der Nähe der Hochschule, heute jedoch findet sie in A.s Wohnung statt.
Eine Corona-Paranoia, wie man sie bei linken Studenten erwarten würde, ist bei uns Musikern eher unüblich. So sitzen sie alle da, ohne Maske, ohne Abstand. A. bietet mir einen Tee an.
Als ich dazu komme, merke ich, dass gerade eine heftige Diskussion im Gange ist. Hinten links, am Fenster zur Straße, sitzt V. schweigend und unbeteiligt da.
Ihr Konzert hat sie wohl ein wenig erschöpft. Zwischen uns zanken sich die beiden Streithähne. Da ist einmal F., V.s Frau, eine „starke Frau“, ihr versteht? Um Missverständnisse vorzubeugen: F. und ich können uns gegenseitig gut leiden und auch gut miteinander reden. Fragt sich nur, ob dem immer noch so wäre, wüsste sie von meinen Ansichten bezüglich… aller Themen eigentlich.
Ihre Stimme dominiert derweil nicht nur das Gespräch, sondern gleich den ganzen Raum. Der tapfere Kontrahent ist N., ein hervorragender Geiger. Ich kenne ihn mittlerweile seit vier Jahren, wenn auch nicht sonderlich gut. Er erinnert mich immer ein wenig an Paganini, ein Paganini im Anzug eben. Soweit ich weiß, habe ich ihn nie ohne Anzug und Hut gesehen.
„Worum geht’s?“, frage ich die anderen beiden Damen zu meiner Rechten, die ebenfalls kaum im Gespräch involviert sind.
„Es geht um die neue Professur für die Barockviolinen“, antwortet eine.
Ok, kein Thema, das so einen großen Wirbel machen dürfte, oder? Kurz danach wird es mir klar: F. regt sich darüber auf, wie dominant einer der Bewerber im Gegensatz zu seinen eher zaghafteren Mitbewerberinnen gewesen sein soll – im Übrigen der einzige Mann unter den Kandidaten.
Es dauert auch nicht mehr lange, bis Wörter wie „Gender“ oder „Privileg“ fallen. Na toll, denke ich mir, da willst du einen entspannten Abend haben und dann das. Entnervt verdrehe ich die Augen.
Nachdem er mit seiner Freundin telefoniert hat, gesellt sich unser Gastgeber wieder zu uns. A. bekommt nun auch den Diskussionsgegenstand mit. „Warum bringst du diesen ganzen linken Talkingpoints hierher? Schon schlimm genug, dass das Leben an der Uni damit vergiftet wird.“
Oha, damit habe ich nicht gerechnet. F. anscheinend auch nicht.
„Ich mein ja nur, wie kann es sein, dass ein Mann so dominant sein darf, eine Frau aber nicht“. Sie hat davor die Alice Schwarzer gemacht: Sich breitbeinig auf ihren Stuhl hingefläzt und gefragt, ob eine Frau das denn auch dürfe. „Es scheint mir, als ob das was mit Privilegien zu tun hat. Mit männlichen Privilegien.“
A. überlegt kurz. „Was ist daran denn schlimm, an Privilegien? Weißt du, als die russischen Exilanten, die Weißen, nach der Revolution nach Amerika gingen, schrieben sie auch über Privilegien. Privileg, so schreiben sie, es ist nicht nur ein Vorteil. Es ist auch eine Pflicht, eine Bürde gegenüber denjenigen, die diese Vorteile nicht haben.“ Wow. Ich kann es kaum fassen. Privileg als Pflicht und Verantwortung aufzufassen, ist etwas zutiefst Reaktionäres in meinen Augen.
„Danke, dass du das sagst.“ N. kommt, nach dem er auch nicht schlecht geguckt hat, wieder in Fahrt. „Es ist ja nicht so, als auf Frauen nicht auch dominant sein können.“ Ja, F. ist ein gutes Beispiel dafür. „Und als Schüler hörst du sowieso jedem zu, von dem du weißt, dass er was als Lehrer taugt.“ K. ist bei weitem kein strenger, dominanter Mensch, aber eben ein sehr guter Cembalist, weswegen ich seinen Unterricht auch so wertschätze.
„Ja, aber ich mag es nicht, wenn jemand so direkt beim Unterrichten ist. Ich brauche etwas mehr… Raum. Männer sind da häufig zu direkt“, entgegnet F.
„Find ich nicht unbedingt. Klar es, kommt drauf an, aber am Ende ist es immer ein Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Eine gewisse Hierarchie ist immer dabei.“ Warum überrascht mich das? Der Kerl läuft den ganzen Tag im Anzug rum, wieso sollte er Hierarchien nicht mögen? „Die ergibt sich eben, wenn es ein guter Lehrer ist. Egal ob Mann oder Frau.“
Der Zeitpunkt ist gekommen, um sich einzumischen. „Man kann also sagen, dass gute Lehrer meist eine gewisse „natürliche Autorität“ haben?“ Hoppe lässt grüßen.
„Ja schon, wobei es nicht unbedingt eine „Autorität“ sein muss“, antwortet N.
„Nun, ich meine damit nicht die eines klassischen preußischen Offiziers.“
„Schade, wo ich doch gerade Preuße bin.“ Er lacht. „Aber ich weiß, was du meinst.“
Von F. darf ich mir einen schnippischen Kommentar über das Preußentum anhören.
„Es ist ja nicht nur im Unterricht so.“ Sie führt ein weiteres Beispiel aus: „Ich mache online einen Lateinkurs.“ Based, denke ich mir.
„Jedes Mal, wenn der Lehrer eine Frage stellt, melden sich interessanterweise nur die Männer zu Wort. Meistens geben sie einem nicht mal Zeit. Manchmal wissen zwar alle die Antwort, aber dennoch sagen sie blitzschnell die Antwort und geben mir eben keinen Raum.“
Das kann doch nicht ihr Ernst sein.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ N. ist wirklich ein Guter.
„Sorry, aber da geht es um Effizienz, um Fakten. Nicht um Gefühle.“
Das Gespräch zieht sich noch eine ganze Weile. Ich gehe derweil in die Küche, um mir neuen Tee zu holen. Ich treffe auf V.
„Eine heftige Diskussion da vorne, nicht?“, frage ich sie.
„Ja. Ja…“ Nicht nur ihr Konzert scheint sie müde gemacht zu haben.
Bald schlägt die Uhr der Herderkirche zehn. Wir sind dabei aufzubrechen. N. steht zusammen mit seiner Freundin abseits der anderen.
„Eskaliert das immer so zwischen dir und F.?“, frage ich ihn.
„Ja schon, wir haben eigentlich immer verschiedene Ansichten, und sie ist sehr… leidenschaftlich.“
„Hab‘ ich gemerkt. Aber nicht immer dasselbe Thema, oder?“
„Nein. Nur wenn ich schon Wörter wie Privileg, da krieg ich Bluthochdruck.“ Ach, wie schön.
„Oder bei Sachen wie Black Lives Matter. Die tun so antirassistisch, sind dabei selbst die größten Rassisten unserer Zeit.“
Ich staune nicht schlecht und spiele die Boomerkarte aus: „Findest du es nicht auch ein wenig amüsant, wie nahe sich die woken Linken und die Rechtsextremen, die Nazis sind? Jene sagen, Weiße seien privilegiert, diese, es sei ein Privileg, weiß zu sein.“
„Ja schon“, antwortet er. „Aber die heißen ja immer noch Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei. Sie sind ja eigentlich eine häretische Abspaltung der Kommunisten.“
Das habe ich auch nicht kommen sehen. Sofort versuche ich etwas umzuschwenken: „Ja, mit „rechts“ meine ich die Normie-Definition, nicht das eigentliche rechts. Für mich sind ja die Nazis auch eher links.“ N. nickt zustimmend.
Wir verlassen geschlossen die Wohnung. A. begleitet uns. Ich entscheide mich, mit den anderen mitzugehen. Am Wielandplatz verabschieden wir uns zuerst von N., der seine Freundin nach Hause bringt, und dann von F. und V.
Erstere entschuldigt sich für ihre leichte Aggressivität von vorhin. „Aber bei solch einem Thema werde ich emotional.“
„Alles gut“, sage ich beschwichtigend. Alles in allem ist sie eben doch eine sympathische, liebenswerte Person.
A. und ich gehen daraufhin Richtung Marktplatz. Dort würden sich auch unsere Wege trennen, aber verweilen noch. Ich entschließe mich, mit der Tür ins Haus zu fallen.
„Sag mal, und du musst mir ehrlich antworten, siehst du dich selbst als Linken?“
„Ach weißt du…“ Wie üblich redet er viel drum herum. Aber er auch er kommt dann irgendwann zum Punkt: „Nein. Mir gehen diese ganzen Ideologen und Dogmatiker auf den Geist. Ich ordne mich keiner Schublade wirklich zu weißt du?“
„Ja. Ich kann dich schon verstehen. Es ist heute so verkrampft. An der Hochschule kannst du ja gar nicht mehr frei reden.“
„Glaube ich“, antwortet A.
Ich entschließe mich, die Karten auf den Tisch zu packen: „Weißt du, je mehr ich die Linken habe reden hören, desto rechter wurde ich. Ich meine damit nicht rechts in dem Sinne vom Nationalsozialismus, sondern im Sinne von reaktionär. Ich habe die Schnauze voll von den Ideologien – sei es Kommunismus, Nationalsozialismus oder die liberale Demokratie. Ich habe es einfach satt. Ich will damit nichts zu tun haben!“
A. nickt verständnisvoll. Just in dem Moment, in dem ich diesen Offenbarungseid ablege, kommt N. des Weges – er blieb also nicht bei seiner Freundin, sondern machte sich auf den Nachhauseweg, der ihm am Marktplatz vorbeiführt. Er will heim, kann der Versuchung aber nicht widerstehen und gesellt sich zu uns – nicht zuletzt, weil er den Part mit dem „reaktionär“ aus meiner Rede mitbekommen hatte.
„Wir lassen gerade den Abend Revue passieren“, erkläre ich ihm.
„Ah. Ja, F. kann manchmal sehr anstrengend sein.“
„Das habe ich gemerkt.“
„Und dann die Sache mit dem Lateinunterricht… Es geht eben manchmal nur um Fakten, nicht um Gefühle.“
„Facts don’t care about your feelings.“
„Ben Shapiro?“ N. muss lächeln. „Jaja, der jüdische Nazi.“
„Mich hat tatsächlich mal mein ehemaliger Mitbewohner so genannt“, sagt A.
„Was, Nazi?“, frage ich.
„Ja. Ich sagte, es sei dämlich überall die Masken zu tragen, da sagte er, ich sei nicht besser als die Nazis und Coronaleugner.“
„War er Deutscher?“. Rhetorische Frage. Wir alle kennen die Antwort. Ich schüttle den Kopf.
Ca. eine Stunde werden wir noch dort stehen und uns über Gott und die Welt unterhalten. Über unsere Hochschule, die verkrampften linken Ideologen.
Irgendwann werfe ich den Raum: „Es ist der Untergang des Abendlandes, wie Oswald Spengler sagte.“
„Ach, ja, das habe ich mal gelesen in meinen Zwanzigern“, antwortet A. „Ein wundervolles Buch.“ Der Abend hätte besser nicht laufen können.
„Ja, es ist tatsächlich der Untergang“, sagt N.
„Wenn das so weiter geht, mit allem, mit Black Lives Matter und den ganzen anderen Kram, heißt es: Ducken und schauen das man überlebt.“
„Es ist das Bröckeln der liberalen Demokratie“, sage ich.
„Meinst du?“
„Wenn ich wetten müsste, ja.“
N. schüttelt lächelnd den Kopf. „Willst du in diesen Zeiten wirklich wetten?“ Er hat recht. Vor fünf Jahren hätte man wetten können, aber heute scheint jede Absurdität möglich zu sein.
Der Abend wird zur Nacht.
„Also, ich muss dann gehen“, drängelt N.
„Ja, du hast ja recht“, sage ich. „Gentlemen, es war ein wundervoller Abend. Danke dafür.“ A. stimmt mir zu.
„Hätte ich ein solches Gespräch je mit K. führen können?“, frage ich, N. anblickend.
„Es wäre wohl zum Desaster geworden.“ Er schmunzelt. Und so gehen wir unserer Wege.
Es ist ca. 24 Uhr, als ich die Tür meines Zimmers öffne. Was für ein Abend. Ich lege mich ins Bett, kaum glaubend, dass ich mit A. und N. so offen reden konnte. Es lohnt sich manchmal eben doch, sich den Leuten zu öffnen. Andererseits ist die Paranoia an linken Unis und Hochschulen ja nicht unberechtigt. Zufrieden schlafe ich ein.