Von Karl-Heinz Stiegler
Die Ampel leuchtet nicht mehr, die Medien rasen drauflos. Welcher Moment hätte die 1066 Tage des farbenfrohen Triumvirats besser bilanzieren können als ein grauer, nebliger, kalter Novembertag? Wenn sich erfüllt, was man gehofft, woran man aber nie geglaubt hat, dann sind Schadenfreude, Erleichterung und Häme groß. In der Aufmerksamkeitsökonomie schwamm das kindergerecht formulierte Szenario des „Ampel-Aus“ immer wieder oben auf. Doch nun muss sich der Dopaminspiegel wieder senken. Wer sich im Freudentaumel als Erster besinnt, hat die Nase vorn.
Auch wenn wir mit „News“ überhäuft werden, wissen wir eigentlich noch nicht viel. Nur: Die FDP macht mal wieder FDP-Sachen und zieht den Kopf aus der Schlinge, bevor Teer und Federn sie zu offensichtlich als Mittäterpartei kennzeichnen. Damit bleibt genug Zeit, sich vor dem nächsten Wahltheater in ein neues, staatsmännisches und kritisches Kostüm zu kleiden.
Wann das sein wird, weiß indes niemand. (Noch-)Bundeskanzler Scholz hat zwar für den 15. Januar 2025 die Vertrauensfrage angekündigt, aber erstens bleibt abzuwarten, ob er sich nach dem Jahreswechsel „noch daran erinnern“ kann; zweitens erscheinen ab dem Moment der Vertrauensfrage zwei Optionen realistisch, die ohne Neuwahlen auskommen:
1.) Scholz findet eine Mehrheit unter den „AfD-Verhinderern“. Dann hätte er zwar keinen neuen Koalitionspartner, könnte aber eine rot-grüne Minderheitenregierung mit wechselnden Mehrheiten testen. Minderheitenregierungen sind bisher für den bundesdeutschen Parlamentarismus untypisch. Angesichts der erstarkenden Alternative könnte das Modell aber zeitnah für die Kartellparteien interessant werden. Ein knappes Jahr Testlauf, bis im September 2025 ohnehin planmäßig neu gewählt wird, kommt da gelegen.
2.) Scholz verliert zwar die Vertrauensfrage, aber es kommt nicht zu Neuwahlen. Ob neu gewählt wird, entscheidet schließlich der Bundespräsident. Und ob Steinmeier, Scholzens ehemaliger Genosse, der seine SPD-Mitgliedschaft lediglich für seine Amtszeit als Bundespräsident ruhen lassen muss, wirklich von seinem Auflösungsrecht Gebrauch macht, darf bezweifelt werden. Zwar kam es in der Geschichte der BRD schon dreimal zu vorgezogenen Neuwahlen; der Unterschied zur Situation heute ist jedoch, dass die damaligen Bundeskanzler Brandt, Kohl und Schröder jeweils das Scheitern der Vertrauensfrage selbst wollten. Davon kann bei Scholz nicht die Rede sein. In diesem Fall ist es wahrscheinlich, dass sich der Bundestag einen neuen Kanzler wählt und aus eigener Kraft eine neue Regierung bildet. Warum nicht mit Merz an der Spitze?
Warten wir also ab, ob es wirklich schon im März zu Neuwahlen kommt. Eine Sache bleibt derweil besonders wichtig: Wie sollte sich eine wahrhaft oppositionelle Partei in dieser chaotischen Situation verhalten? Drei Szenarien, absteigend sortiert:
1.) Der Idealfall für Deutschland unter allen realistischen Möglichkeiten wäre paradoxerweise zunächst eine Koalition aus CDU, Grünen und möglichst vielen anderen roten Parteien. Dieses – zugegeben akzelerationistische – Szenario einer „AfD-Verhinderungskoalition“ brächte zwar vorerst keine Verbesserung für Deutschland, dafür aber die Selbstzerstörung der CDU mit sich. Und das ist die erste Voraussetzung für den wirklichen Erfolg der Alternative bei der übernächsten Wahl. Für die AfD bedeutet das: weiter das Overton-Fenster nach rechts verschieben und dadurch die Brandmauer der CDU aufrechterhalten.
2.) Alles hängt an der CDU. Weniger gut für Deutschland wäre es, wenn diese nicht auf linksextreme Koalitionspartner angewiesen wäre, sondern es erneut für eine GroKo oder „Deutschland-Koalition“ mit der FDP reichen würde. In diesem leider wahrscheinlichsten Szenario würde der „Mythos der Mitte“ aufrechterhalten und die dann schwarz-geführte Regierung wäre vermutlich stabil. Das „weiter so!“ würde das weitere Dahinsiechen und die weitere Agonie Deutschlands bedeuten. Dieser Lethargie kann sich die AfD nicht erwehren, die dann weiter wie bisher von den Fehlern der anderen abhängig bliebe, die sie immer besser ausschlachtet und „instrumentalisiert“.
3.) Das Horrorszenario wäre allerdings eine weitere linke Regierung, wahlweise aus Grünen, SPD, BSW und möglicherweise FDP. Die Folgen wären nicht nur für das Land verheerend, sondern auch für die Chancen einer Alternative. Die Situation wäre sozusagen ein „Hyperakzelerationismus“, der jede Substanz des Widerstands verschleißt. Neben den inhaltlichen politischen Gefahren bestünde das Problem, dass sich CDU und AfD vermutlich weiter angleichen würden; unter inhaltlichem und prozentualem Verlust der AfD und dem Aufbauschen der Unionsparteien. Vor dem Hintergrund des politischen Schreckensgeschehens könnten sich beide genötigt fühlen, es doch miteinander zu versuchen. Zum Glück erscheint dieses Szenario, in dem die AfD alles dafür tun müsste, glaubhaft weiter ihr Profil zu schärfen, am unwahrscheinlichsten.
Bis dahin kann jede Opposition das politische Chaos, das die Ampel angerichtet hat, für sich nutzen. Merz zum Beispiel hat es direkt verstanden, sich als Stabilitätsgarant und Elder Statesman aufzuspielen. Daran kann die AfD noch lernen. Wie cool wäre es jetzt bitte, wenn eine Alice Weidel sich als künftige Kanzlerin gibt und schonmal einen vorsorglichen Besuch beim vorletzten und nächsten US-Präsidenten abhält? Nicht, weil die äußerst einseitige transatlantische „Liebschaft“ so wünschenswert wäre, sondern weil man aus den gegebenen Umständen das Beste machen muss? Oder würde Höcke zu Gast bei Trump für mehr Empörung unter den Einheitsmedien sorgen? Wer würde neben Trump in Mar-a-Lago ein besseres Bild machen? Krah? Kann er Golfen?