Ein historischer Tag in der Geschichte der Bundesrepublik war der gestrige Mittwoch, der 6. Mai 2025, und zugleich ein Tag der vertanen Chance. Friedrich Merz, dessen Scheitern bereits nach der Bundestagswahl im Februar dieses Jahres prophezeit wurde, wollte sich zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik wählen lassen, was er letztlich auch geschafft hat – wenn auch erst im zweiten Anlauf.
Und das ist ja fast ein Erdbeben für deutsche Verhältnisse: Die Wahl des Kanzlers ist im Grunde nicht mehr als eine Formalie, ein farbloser Ritus, bei dem es keine Überraschungen gibt, so dass der Kanzler bisher immer im ersten Wahlgang gewählt wurde. Allerdings gibt es für alles das erste Mal: Am Vormittag erreichte mich die Meldung, dass Merz nicht zum Kanzler gewählt wurde, ihm fehlten sechs Stimmen zur erforderlichen Mehrheit (310 Stimmen statt der erforderlichen 316). Außerdem sind das 18 Stimmen weniger, als die neue Regierungskoalition im Parlamentssaal hätte. Selten schmeckte die Schadenfreude süßer! Merz war mal wieder gescheitert, bevor er überhaupt loslegen konnte. Noch am gleichen Tag konnte ein zweiter Wahlgang initiiert werden, in welchem dann Merz doch noch mit knapper Mehrheit gewählt wurde – schade! Der Tag hätte noch so viel schöner werden können.
Die Stimmung war jedenfalls im Keller, als die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner gegen zehn Uhr das Ergebnis verkündete. Das Bild von Merz’ Familie, bestehend aus seiner Frau und seinen zwei Töchtern, auf der Zuschauertribüne, diese kalten, enttäuschten Blicke – das hat sich direkt in mein Gedächtnis eingeprägt. Interessanterweise wollte die Union einen zweiten Wahlgang verschieben, erst auf Drängen des zukünftigen Koalitionspartners wurde noch am selben Tag wieder gewählt.
Dann ereignete sich ein kleiner Politkrimi, es wurde verhandelt, um die Wahl noch zu retten. Die CDU-loyale „Bild“-Zeitung kennt die Antwort:
„Die Union braucht jetzt die Zustimmung der Linken (trotz Unvereinbarkeitsbeschluss), um einen 2. Wahlgang noch am Dienstag zu ermöglichen. So kommt es. Der Ausweg: Die Unvereinbarkeit soll nicht für Geschäftsordnungsfragen gelten. CSU-Grande Alexander Dobrindt macht dies mit der Linken-Führung klar.“
Mit den Linken paktiert man also. Das ist keine Überraschung, aber man sollte immer wieder und unbarmherzig betonen, wie schwach und erbärmlich sich die Union hier gibt. Auf der anderen Seite würde einem das gnaden- und rücksichtslose Klammern an der Macht fast Bewunderung abringen, wenn es nicht auf Kosten unser aller Zukunft und unseres Vaterlands geschehen würde. Die Union hat damit erneut bewiesen, dass sie jegliche konservativen Versprechen für null und nichtig erklärt und mit den Neo-Bolschewiken paktiert, anstatt auch nur einen wirklichen Schritt nach rechts zu machen. Das Ermüdende an der ganzen Sache ist ja, dass das weder eine neue Erkenntnis ist noch an dem Wahlverhalten der CDU großartig etwas ändern könnte.
Die Union wird sich aus diesem Manöver ohnehin herausreden können, und der Wähler, zumindest derjenige, der schon Rente bezieht, wird es brav schlucken. Steffen Bilger, der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, verteidigte laut „T-Online“ den Schritt seiner Partei damit, dass es „keine inhaltliche Zusammenarbeit“ gegeben, sondern es sich bloß um eine „formale Frage“ gehandelt habe. Dann ist ja Gott sei Dank alles bestens! Wer weiß, wie viele „formale Fragen“ es noch geben wird in Zukunft, vor allem wenn es darum geht, sich eine Zweidrittelmehrheit zu beschaffen, um beispielsweise die Verfassung zu ändern. Heidi Reichinnek und ihre Genossen werden sich da sicher einige Zugeständnisse machen lassen wollen; der heutige Tag war auf jeden Fall ein Sieg für sie.
Ich will den Artikel allerdings mit etwas Erheiterung schließen: Tilo Jung, einer der akribistischen extrem linken Journalisten in der Bundesrepublik, hatte auf der Plattform X mal wieder einen kleinen Paranoia-Anfall bezüglich des zweiten Wahlgangs:
„Wenn im 2. Wahlgang, sagen wir mal, 50 AfD-ler heimlich für Merz stimmen, wird der Chaos-Tag perfekt. Egal, wie viel Merz dann über der erforderlichen Mehrheit ist, ist dann unklar, ob diesmal alle aus der Groko für Merz gestimmt haben oder 70 AfDler. Win Win aus Fascho-Sicht.“
Er glaubt also an den umgekehrten Fall; wir haben es hier mal wieder mit typisch linker Projektion zu tun: Das, was sie selbst tun, werfen sie ihren Gegnern vor (Jung wusste natürlich vom Abkommen zwischen Union und Linken). Auf den schnippischen Kommentar (und die Höcke-Anspielung) der AfD-Politikerin Marie-Thérèse Kaiser, Jung solle sich doch einen Therapeuten suchen, antwortete er mit: „Droh mir doch gleich mit dem Galgen“.
Äußerst dünnhäutig, der Mann! Neben diesem Twitter-Amüsement bleibt noch die hoffnungsbringende Erkenntnis dieses Tages: Merz steht schwächer da als zuvor, und wieder steht sein vermeintlicher Machtausbau auf tönernen Füßen. Immerhin!