Wenn eine Abbildung im Oberstufen-Geschichtsbuch den Abiturienten Fechter in seinen Bann zog, dann war das sicherlich Paul Friedrich Meyerheims „Lokomotivbau bei Borsig“:

Es ist nicht nur das ungewöhnliche Format (Meyerheims Gemälde war Teil eines ganzen Bilderzyklus mit dem Titel „Lebensgeschichte einer Lokomotive“, der die Villa der Industriellenfamilie Borsig schmückte), sondern vor allem die Verkörperung von Wucht (die auf den Betrachter ausgerichtete Lok), Tatkraft (Arbeiter), Genie und Willenskraft (Ingenieure), Hoffnung (das einfallende Sonnenlicht) und schließlich der jugendliche Optimismus, verkörpert durch den am Konstruktionsplan stehenden Knaben. Der Kleidung nach zu urteilen handelt es sich bei ihm um einen einfachen Arbeiter. Aber sein interessierter Blick, der auf dem Bauplan haftet, und die Nähe zum regelrecht väterlich wirkenden Chef im grauen Anzug verdeutlichen eben auch die Aufstiegschancen der nächsten Generation.
In Meyerheims Gemälde finden sich also eine ganze Reihe von Tugenden und Vorstellungen, die unser Land einst groß gemacht haben und die man deswegen heute vergeblich sucht. Das 19. Jahrhundert war in der Rückschau unbestreitbar eine große Zeit des deutschen Volkes. Aber ausgerechnet vom kruden Eisenbahnbau auf diesen erhebenden Eindruck zu kommen, wäre zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts wohl keinem Menschen in den Sinn gekommen – keinem, außer vielleicht einem: Friedrich List. Aber zu dem kommen wir gleich.
Die erste deutsche Lokomotive, der ab 1835 zwischen Nürnberg und Fürth verkehrende „Adler“, war ein Import aus England, genau wie der Lokführer William Wilson. Industriell waren die deutschen Länder zu diesem Zeitpunkt noch unterentwickelt, die Produktion der Schienen, auf denen der „Adler“ rollen sollte, konnte nur von einer einzigen deutschen Firma bewerkstelligt werden – und selbst das nur mit Ach und Krach. Aber schließlich fügte sich alles.
Keine 80 Jahre später, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, hatte sich Deutschland zum größten Lokexporteur der Welt gemausert. Das bereits erwähnte Unternehmen Borsig, das zwei Jahre nach der Jungfernfahrt des „Adlers“ gegründet wurde, war in der Zwischenzeit zum größten europäischen Lokomotivproduzenten aufgestiegen.
Die Entwicklung des Eisenbahnwesens ist untrennbar mit der Industrialisierung verknüpft. Kohle, Stahl, Lokomotiven, Waggons, Schienen, Brücken, Tunnel, Bahnhöfe, Signallichter – all das und viel mehr muss auf die eine oder andere Weise erdacht, entwickelt, gefördert oder produziert werden. Der deutsche Ökonom Friedrich List (1789-1846) hat dieses ungeheure Wachstumspotenzial prognostiziert und sich darüber hinaus für den Abbau von Zollschranken und den Freihandel eingesetzt. Er machte sich allerdings keine Illusionen: Unterentwickelte Volkswirtschaften müssten ihre junge Industrie vor entwickelten Volkswirtschaften mittels Zöllen schützen. Dieser Gedanke ist naheliegend und bestätigt sich mit Blick auf den Aufstieg der deutschen Eisenbahnindustrie. In den 30ern oder 40ern des 19. Jahrhunderts hätte diese am freien Markt gegen die englischen Platzhirsche nicht den Hauch einer Chance gehabt. List verstand Zölle allerdings als eine Art Starthilfe, nicht aber als dauerhaften Vorteil.
Lists Vorstellungen zur Wirkung des Erziehungs- beziehungsweise Schutzzolls sind bis heute umstritten. Fakt ist aber, dass nicht nur die deutsche Industrialisierung hinter Zollschranken vollzogen wurde. Zudem waren die Zölle zumindest in Deutschland relativ moderat.
Die Frage um den Sinn und Unsinn von Schutzzöllen hat allerdings zwei Seiten. Mag die deutsche Eisenbahnindustrie in ihrer Entwicklungsphase durch Zölle geschützt worden sein, so behinderten ebenjene Zölle auf Lebensmittel die Mechanisierung der deutschen Landwirtschaft. Um sich nämlich vor billigen Einfuhren zu schützen, spielten vor allem die einflussreichen Großagrarier, die zumeist in Preußen beheimatet waren, ihren politischen Einfluss aus. Das Resultat: Der Schutz vor billigen Importen senkte den Modernisierungsdruck. Das Reich war nicht zuletzt wegen der unzureichenden Produktivität seiner Landwirtschaft weiterhin auf Einfuhren angewiesen. Die Folgen, vor allem während des Ersten Weltkriegs, sind bekannt.
Zölle sind also stets eine zweischneidige Sache und selbst Wirtschaftsliberale – zu denen ich mich bereitwillig zähle – sollten das Thema nicht allzu leichtfertig über das Knie brechen.
Zölle sind ja nicht per se gut oder schlecht (abgesehen von der Dämonisierung durch die Freihandels- und Offene-Grenzen-Fanatiker), sondern ein wirtschaftspolitisches Instrument, mit dem bestimmte Ziele erreicht werden sollen. Die Frage ist dann, wessen Interessen diese Ziele dienen und ob sie überhaupt erreicht werden.
Für die USA ist es offensichtlich ein Versuch, die Deindustrialisierung umzukehren und das Handelsbilanzdefizit zu reduzieren. Parallel dazu erfolgen Einladungen an europäische Unternehmen, sich in den USA niederzulassen, dort zu produzieren, die Zollschranken zu vermeiden und von günstigen Energiepreisen zu profitieren. Mal schaun, ob die Rechnung aufgeht.
Deutschland arbeitet weiterhin verbissen an der Deindustrialisierung, will Russland besiegen und lädt die Mühseligen und Beladenen aller Welt zu Gast bei Freunden ein. Mal schaun…