Wer ist der unangefochtene Boomer-König?

24. Januar 2025
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Vor Kurzem stieß ich in den Weiten von Twitter/X auf einen Beitrag, der in lakonischer Art einen bestimmten Wesenszug beschrieb, der mir in meiner Funktion als Netzredakteur bestens vertraut ist.

Zugegeben, die Frau links unten, Vera F. Birkenbihl, sagt mir eher weniger. Aber Schmidt, Pispers und Scholl-Latour sind mir bestens vertraut – durch zahllose Fernsehbeiträge, durch zahllose Bücher, durch zahllose Zeitungsartikel. Sie sind die personifizierten Kristallisationspunkte desjenigen Deutschlands, das sehr viel auf den „gesunden Menschenverstand“ gibt und ein ausgesprochenes Bedürfnis verspürt, sich an die Lippen von Autoritäten, wie den oben aufgeführten, zu hängen.

Schmidt und Scholl-Latour waren für mich als Jugendlichen regelrecht mythenhafte Gestalten. Ich verschlang deren Bücher, und ich schaute mir jeden Fernsehbeitrag an, in dem die beiden Orakel der alten Bundesrepublik ihren Unmut über diese oder jene Entwicklung zum Besten gaben. „Dess woar noch’n Kanzla!“ oder „Solche Reborda bräucht’s aweder“ – diese Anerkennungen hallen nach, jeder ältere, an Politik und Weltgeschehen interessierte Deutsche, mit dem ich zu tun hatte, verehrte den Altkanzler und salutierte vor dem Journalistenveteranen.

Pispers’ Schnittmenge mit Schmidt und Scholl-Latour war gigantisch, auch er bespielte so einen ganz bestimmten Grundton, eine Mischung aus (scheinbar) harter, ehrlicher, sich freimachender Kritik an der eigenen Seite, dieses Gefühl des totalen Durchblickens und die daraus resultierende Arroganz. Aber im Trio Infernale der Alt-BRD stand er dann doch etwas im Schatten – als Clown, der er ja eigentlich sein wollte, fehlte ihm gegenüber „den Letzten ihrer Art“ – dem letzten echten Kanzler, der letzten echten Reporterlegende – die Autorität der Ernsthaftigkeit. Der letzte Kabarettist? Ach nee, das ist dann etwas zu dick aufgetragen.

Und während Schmidt und Scholl-Latour dann nach sehr vielen Lebensjahren, sehr vielen Büchern und sehr vielen mahnenden Talkshow-Auftritten ins bundesrepublikanische Walhalla eintreten konnten – in fester Gewissheit, dass die Amtssprache auch dort „Klartext“ lautet –, hat sich Pispers nach seiner Bühnenverabschiedung in gewisser Weise selbst demontiert. Auf seiner Netzseite verkündet er:

„Aus gegebenem Anlass möchte ich mich an dieser Stelle von allen Coronaleugnern, selbsternannten Querdenkern, AfD-Fans und rechten Extremisten distanzieren.

Diese Leute mißbrauchen aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und alte Texte, um mich in den asozialen Hetzwerken als vermeintlichen Kronzeugen für Ihre kruden bis kranken Ansichten zu präsentieren.

Ich weiß leider nicht, wie ich mich dagegen wehren kann, ohne einen Großteil meiner Lebenszeit damit zu vergeuden, gegen diese Machenschaften vorzugehen.“

Ich finde diesen Kotau vor dem Zeitgeist regelrecht putzig, basierte doch Pispers’ Popularität maßgeblich auf der Verbreitung von „kruden Ansichten“. Er war der „Kronzeuge“ für alle, die die Meinung vertraten, dass der Ami hinter allem Unheil auf diesem Planeten steckt. Pispers war für die Linksboomer das, was Schmidt und Scholl-Latour für die Rechtsboomer waren: der Vorkauer, der Welterklärer, der Typ, der das sagt, was man sich ja selbst schon immer gedacht hatte.

Linksboomer und Rechtsboomer sind sich bei der Wahl ihrer Vorbilder sehr, sehr ähnlich. Scholl-Latour war ebenfalls kein großer Freund der Amerikaner, Schmidt war bei diesem Thema wohl am indifferentesten. Aber was sie alle gemeinsam hatten, war die absolute, uneingeschränkte Herrschaft über die Deutung des Normalen – eben dessen, was Links- und Rechtsboomer für „gesunden Menschenverstand“ halten.

Nachdem ich Birkenbihl ausgeklammert habe und sich Pispers sozusagen selbst aus der Gleichung gekürzt hat, bleiben nur noch Scholl-Latour und Schmidt übrig. Der „letzte echte Reporter“ und der „letzte echte Kanzler“. Das Rennen um die Boomer-Herzen mag stellenweise knapp sein, aber auf den entscheidenden Metern gewinnt der kettenrauchende Lotse aus Hamburg. Die Autorität des Kanzlers, auf die sich so viel verdichtet, muss gegenüber dem Journalisten siegen – auch wenn dem die „acht Tage beim Vietcong“ ewig zur Ehre gereichen.

Es ist aber nicht allein das Andenken an die Kanzlerschaft selbst, auf die Schmidt seine Popularität gründete. Besonders beliebt war er in seinen Regierungsjahren sowieso nicht, was nicht zuletzt an seiner eher durchwachsenen Bilanz lag. Sein Ruhm schöpfte sich auch nicht allein aus dem Krisenmanagement während der Hamburger Sturmflut oder dem eisernen Ausharren während des Deutschen Herbstes 1977. Schmidt war schlicht und einfach der bessere Selbstdarsteller.

Das war er während der Sturmflut, das war er während seiner Zeit in Bonn, vor allem aber wusste er in den Jahrzehnten nach seiner Kanzlerschaft, wie er sich zu vermarkten hatte. Wahrscheinlich nimmt mir der ein oder andere Leser das Rütteln am letzten, leuchtenden Denkmal der Alt-BRD übel. Aber ich will hier ganz klar herausstreichen, dass die Selbstdarstellung, die rhetorische Brillanz, zu der sicherlich auch eine ausgesprochen große Expertise auf dem ein oder anderen fachlichen Gebiete zählt, anerkennenswerte Eigenschaften sind. In der Hinsicht war Schmidt auch ein guter Staatsmann und ein Kanzler, den man sich heute nur wünschen würde – eben weil man ihn als Erscheinung ernst nimmt.

Mein Problem an der Ikone Schmidt ist aber die Kluft zwischen dem Auftritt, dem Gesagten, der wohlinszenierten Selbstdarstellung – und der tatsächlichen politischen Leistung. Obwohl studierter Volkswirt, verfiel er gerade als Sozialdemokrat blind und blauäugig dem Planungsoptimismus, der sich ab Mitte der 1950er in den westlichen Ländern verfestigte. Das Resultat war ein wuchernder Sozialstaat, eine immer impotentere Wirtschaft und eine ausufernde Staatsverschuldung. Kurz: Die Regierung Schmidt hat in ihren acht Jahren Probleme verursacht, die unser Land bis heute nicht überwunden hat.

Aber das und vieles mehr verschwindet hinter den Schwaden aus Zigarettenrauch und dem aufgesetzt angestrengten Raunen, bevor dann irgendeine Weisheit zum Besten gegeben wird, die wir alle – auch die begeistert kommentierenden Boomer – doch sowieso schon tausendmal von Schmidt gehört haben. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass eine Generation, welche die acht Jahre währende Amtszeit des „Altkanzlers“ miterlebt hat, einen Menschen so wenig nach seinen Taten und so sehr nach seinen Worten beurteilt.

Aber nicht nur das: Boomer ziehen aus ihrer Schmidt-Verehrung wiederum keine politischen Konsequenzen. Beredtes Zeugnis dafür ist folgender Beitrag:

Man würde da wirklich gerne wissen: Was bringen Vorbilder überhaupt?

Friedrich Fechter

Nachdem sich Fechter von den beiden Chefs die Leitung der Netzredaktion hat aufquatschen lassen, musste er mit Enttäuschung feststellen, dass die Zeiten von Olymp-Schreibmaschinen und reizenden Vorzimmerdamen vorbei sind. Eine Schreibmaschine hat er sich vom hart erarbeiteten Gehalt trotzdem gekauft. Und einen antiken Schreibtisch. Auf irgendwas muss man im Hausbüro schließlich einprügeln können, wenn die faulen Kolumnisten wieder ihre Abgabefristen versemmeln…

15 Comments Leave a Reply

  1. Um die Frage zu beantworten: Vorbilder sind in einer Gesellschaft zwingend notwendig, um deren Werte aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie verklärt sind.

    Wir orientieren uns an unseren Eltern/unserer Familie, der Dorfgemeinschaft, dem König und Gott.
    Oder Heute: den Lehrern, Sozialarbeitern, dem Politiker und den Konzernen/dem Mann im Fernseher.

    Niemand wird von seiner Prägung so leicht wegkommen, wobei der Typ in dem Video seine Meinung nicht von Schmidt, sondern dem Mann im Fernseher hat.
    Könnte es sein, dass zunächst bei den im Beitrag genannten Vorbildern stand, dass sie (Vera ausgenommen) Männer waren und nicht unfehlbar?

    Es mag für überragende Individuen tatsächlich notwendig werden, diese irgendwann zu hinterfragen, aber ohne die Prägung und das Leitbild kommen wir da nicht weiter.

    Eigentlich interessant ist die Frage, was es braucht, um eine stabile Gesellschaft zu schaffen, die Schönheit und Wahrhaftigkeit lebt, ohne irgendwann Slaanesh zum Opfer zu fallen!?

  2. Der Typ im Video (aufgenommen in FFM?) ist der Phänotyp des bräsig unbelehrbaren zdf Konsumenten.schon wie er schweinchenschlau durch die Brille guckt, dumm lächelt.Passt.leider wird er noch 30 Jahre leben, konsumieren, wertvolles Trinkwasser verschwenden,in Kameras reinsprechen, in der Nase bohren,Urlaub machen und Merkelbücher verschenken. Seine Tochter studiert;irgendwas mit Management,ist „politisch engagiert“ ist bräsig, macht Urlaub in Israel und kennt den Herrn Pfarrer.solche Leute stabilisieren pol.Systeme.schon die Art wie er seinen Schal trägt rechtfertigt eine fette Schelle.

  3. Helmut Kohl war ein Minigolfplatzwart,ausgerüstet mit der Kaufkraft einer hochmodernen Industrienation.Kohl hat die Steuerkohle an Franzosen,Israelis usw verschenkt. Kohl war nicht einmal in der Lage einen technisch bereits ausgereiften Transrapid in der Ostzone zu bauen.Kohl hat deutsche Hochtechnologie an „Freunde“ verschenkt, Kohl war optisch eine Zumutung, sein Sprachduktus bräsig, einfach,gut verständlich für den idiotischen CDU Wähler.

  4. Jeder Tag, an welchem nicht gegen Boomer ausgeteilt wird, ist ein verschwendeter Tag. Jeder Monat, der in Sozialabgaben mündet, ist ein verschwendeter Monat.

    #RenteMussWeg #keinGeldFuerMatthiasHerzschrittmacher

  5. Vielleicht mal konstruktiver ausgedrückt: Passiv-aggressiver Tonfall hat noch nie eine Person oder seine Bewegung in ein gutes Licht gerückt, und auch Boomerbeschimpfung mag zwar nachvollziehbar sein, hilft aber nicht. Das Bild des Chuds sollte vermieden werden, da von solchen Leuten zurecht nichts gutes erwartet wird.

  6. @Matthias
    Vielen Dank für den boomeresken Kommentar, der ganz exemplarisch zeigt, warum die Dinge in Sachen „Generationenkonflikt“ so liegen, wie sie eben liegen. In dem Artikel wird mit keiner Silbe Kohl erwähnt und es ergibt sich auch aus dem Kontext keinerlei Intention, den einen Kanzler über den anderen zu heben. Und der Verweis auf die schwierige Amtszeit ist nur das Wiederkäuen des nicht zuletzt von Schmidt selbst gewebten Narrativs der „Krisenkanzlerschaft“. Den Staatshaushalt hätte er auch ohne Ölkrise ruiniert, sein Vorgänger hatte ja bereits vorgelegt. Was die Sache mit der RAF betrifft: Schmidt hatte ein Riesenglück, dass die Befreiung der Landshut-Geiseln von Profis durchgeführt wurde. Das war das Verdienst der GSG 9 und ihrem Gründer und Chef Ulrich Wegener, nicht das von Schmidt. Vielleicht gehe ich demnächst mal ausführlicher auf die Amtszeit ein.

  7. @Platzhalter
    Mir erschließt sich die Neigung zur Fehlinterpretation nicht: Scholl-Latour wird hier weder besonders kritisiert, noch schlecht dargestellt. Es geht um seine Rezeption. Auch wird an keiner Stelle behauptet, dass er das erste Mal als Reporter in Indochina/Vietnam gewesen wäre.

  8. Mir erschließt sich nicht, warum Scholl-Latour besonders zu kritisieren sei. Vorsicht ist bei allen Welterklärern geboten, aber PLS schaute sich Dinge im Detail und persönlich an, und riskierte dabei durchaus etwas. Sein Erstkontakt mit Vietnam erfolgte außerdem nicht als Reporter, sondern als Soldat.

  9. Die Boomerboomer-Bubis stecken weiterhin in ihrer Endlosschleife, denn „Auf irgendwas muss man im Hausbüro schließlich einprügeln können“.

    Dazu einer der die schwierigen Amtszeit von Schmidt, Ölkrise über RAF-Morde bis Nachrüstung gegen die eigene Partei, abwerten will gegenüber dem Problemfall Kohl. Der hat in 15 von 16 Jahren nichts geleistet außer faule Arroganz. Er wollte noch im Frühjahr 1989, als Ungarn die Grenzen abbaute, neue US-Atom-Kurzstreckenraketen die nur auf dem Gebiet beider deutschen Staaten eingesetzt worden wären. Nachdem ihm die Mauer in den Schoß gefallen war, hat er gleich nochmal einen deutschen Staat abschaffen wollen, zugunsten von Eurozone und EU.

  10. Schmidt war nach dem Ende seiner mehr oder weniger erfolglosen Bundeskanzlerschaft ein Meister der Selbstdarstellung. Helmut Kohl war zum Glück ein Meisterbundeskanzler.

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