Eine Kehrtwende war es (noch) nicht, aber ein deutliches Warnsignal an Brüssel und an den links-grünen Liberalismus: Die Europäische Union, so das klare Ergebnis der jüngsten Wahl, dürfe kein Bundesstaat werden, sondern müsse ein Staatenbund bleiben. Daß mit dieser Grundaussage rechte Parteien in fast allen Mitgliedsländern die angeblich fortschrittlichen Kräfte überholt haben, hat die politische Landschaft bis heute nachhaltig erschüttert.
Verleumdet als „Feinde Europas“, hatten Exponenten von EKR und ID, den beiden rechten Fraktionen im EU-Parlament, kein Hehl aus ihren Positionen gemacht. Nicola Procaccini, Co-Vorsitzender der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), äußerte der „Süddeutschen Zeitung“ zufolge noch bei der Stimmabgabe die Hoffnung, „daß das Europa, wie wir es wollen, gestärkt wird, eines, das die Nationen respektiert“. Europas Reichtum, so Procaccini, liege in der Vielfalt seiner Nationen, und deshalb habe das eigene Modell, nämlich ein „Europa der Völker“, mit dem von anderen gewollten „Superstaat“ nichts zu tun.
Daß sich EKR und ID (Identität und Demokratie) inhaltlich näher sind, als es die Trennlinien zwischen beiden Fraktionen vermuten lassen, zeigte die SZ am Beispiel des ID-Abgeordneten Jordan Bardella. Das Münchner Blatt zitierte aus einer Rede, die Marine Le Pens Spitzenkandidat im vergangenen Oktober bei einer Parlamentsdebatte über das EU-Asylrecht gehalten hatte: Die europäischen Länder würden „niemals Ödland sein, das allen gehört, unberührt von der Geschichte und leer von Völkern. Sie sind das Land der Völker Europas, und genau diese sind es, die als einzige das Recht haben, zu entscheiden, wer in ihr Gebiet einreisen darf“.
Die ungelöste Migrationsfrage und die daraus resultierende Gefährdung der inneren Sicherheit sind es, die Rechten und Konservativen den phänomenalen Erfolg bescherten. Frankreichs Präsident wußte, was die Stunde schlug und rief sofort Neuwahlen aus. „Wir sind an einem historischen Punkt angelangt“, konstatierte er angesichts der fast 40 Prozent für die rechten Parteien und der nur 14,6 Prozent für sein eigenes Lager. Die extreme Rechte, so Macron, teile die Bevölkerung in „echte und falsche Franzosen“ ein und wolle den Rechtsstaat einschränken.
Doch wie kann das Problem der Entfremdung im eigenen Land gelöst werden? Markus Decker vom „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ verwies am 13. Juni in einem Leitartikel auf die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Seine Empfehlung:
„Eine allgemeine Dienstpflicht könnte jener Entsolidarisierung entgegenwirken, die im Land um sich greift und bittere Wahlergebnisse nach sich zieht.“
Im Grunde genommen weiß indes selbst Heinz Bude, laut SZ „Deutschlands profiliertester Soziologe“, keine Lösung. Immerhin bringt er aber die Erwartungen jener, die rechte Parteien gewählt haben, auf den Punkt – es gehe um die Frage der Zugehörigkeit:
„Man will sich zu einer Bezugsgruppe von Meinesgleichen zählen, die ähnliche Ideale von Lebensführung und verwandte Prinzipien von Alltagsmoral teilen. Welcher Gruppe man sich zugehörig fühlt und welche Menschen einem sympathisch sind, will man sich von niemandem vorschreiben lassen. (…) Das trotzige Bestehen auf Heimat und Herkunft mitsamt von Kluft und Tracht ist der Anker in einer Welt der vielen Optionen und der wechselnden Identitäten“
„Kampf um die Zukunft“ (SZ vom 13. Juni 2024)
Bei seiner Gruppen-These verschweigt Bude indes wohlweislich die Tatsache, daß auch in Deutschland die Autochthonen mit rund 60 Millionen noch immer die absolute Mehrheit der Einwohner ausmachen. Die entscheidende Frage ist daher, wie sich in einer alternden Gesellschaft die benötigten ausländischen Fachkräfte integrieren lassen, deren Zahl in die Zehntausende gehen dürfte.
Seit Jahrzehnten wird der öffentliche Diskurs sowohl in der Brüsseler Kommission als auch in den meisten Mitgliedsstaaten von Eliten dominiert, die aus der EU einen Bundesstaat mit zentralen Zugriffsrechten auf politischer und juristischer Ebene machen wollen. Dieser Regierungsapparat soll die Rolle des Schrittmachers bei der Umwandlung Europas übernehmen, wobei die universalen Werte der Zukunft von oben definiert werden: grenzenlose Weltoffenheit, postnationale Multikulturalität, Vielfalt als Ausdruck allgemeiner Diversität und gleichberechtigter Inklusion.
Ausgangspunkt ist der vom amerikanischen Rechtsphilosophen Richard Rorty (1931-2007) propagierte Relativismus und Neo-Pragmatismus. Für Rorty ist das Ideal eine „liberale Gesellschaft, in der absolute Werte nicht mehr existieren werden“. Das individuelle Wohlbefinden werde das einzige sein, das anzustreben sich lohne. Der Kampfbegriff des Werte-Relativismus ist daher die „positive Toleranz“; sie gesteht jedem seinen eigenen Standpunkt zu, verlangt aber, daß alle Positionen als gleichberechtigt akzeptiert werden. Negative Urteile über andere Meinungen dürfen somit nicht gefällt werden, weil dies diskriminierend wäre.
Mittlerweile ist dieser Relativismus, erneut ausgehend von den USA, durch „Cancel Culture“, „Critical Race Theory“ und „Wokeness“ erweitert und verschärft worden. Ziel ist es, traditionelle Einheiten wie Familie, Volk, Nation und Staat in einer erträumten multikulturellen und multiethnischen Weltgesellschaft der Freien und Gleichen aufgehen zu lassen. Hierbei könne, so die Hoffnung der Europa-Enthusiasten, einem Bundesstaat EU eine globale Vorbildfunktion für die propagierte „liberale Demokratie“ zukommen. Trotz der WM-Schmach von Katar moralisieren und politisieren Regierung, DFB und willfährige Medien erneut die jetzt im eigenen Land ausgetragene Meisterschaft. Unter dem Motto „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ laufen die heimischen Kicker in rosa-pink-lilafarbigem Trikot zu Auswärtsspielen auf, bei zwei Begegnungen erstrahlt die Münchner Arena in Regenbogenfarben, und Mannschaftskapitän Gündogan trägt eine Armbinde mit der Aufschrift „Respect“. Vielleicht kommt es aber auch ganz anders, und die Deutschen feiern unbeirrt ein zweites schwarz-rot-goldenes Sommermärchen!
Sorry, natürlich sind auch Autisten Menschen. Kann leider den Kommentar nicht editieren.
Dabei hat Rorty leider übersehen, dass das mit Menschen nicht funktioniert. vielleicht mit autisten.