Moral ist ein fester Bestandteil unseres Lebens. Sie prägt unser Denken, schränkt ein und verleitet uns zu bestimmten Handlungen. Die moralischen Vorstellungen innerhalb einer Gesellschaft beeinflussen das Miteinander und bilden die Grundlage für das Rechtssystem. Inwieweit ist es sinnvoll, sich selbst an gängigen moralischen Einstellungen zu orientieren?
MORAL. Warum verhältst du dich wie du dich verhältst? Warum tust du, was du tust? Ein Teil der Antwort sind deine Moralvorstellungen. Deine inneren Gebote und Verbote. Deine Vorstellung davon, was richtig und falsch ist. Gleichzeitig wird dein Verhalten auch von deinen Mitmenschen und deren Moralvorstellungen beeinflusst. Also sind sowohl innere als auch äußere Moral Faktoren für dein Handeln – und beeinflussen somit deinen Lebensweg.
Wenn du möglichst frei und selbstbestimmt leben willst, macht es also Sinn, sich mit Moral auseinanderzusetzen. Wenn dir bewusst ist, welche Moralvorstellungen wie in deiner Psyche wirken, kannst du rationalere Entscheidungen treffen.
Was lässt sich also über Moral sagen?
Zunächst eine Vorbemerkung: Moral und Rechtsprechung stehen in Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig. Insbesondere in einer Demokratie. Einerseits: Ändern sich die Moralvorstellungen der Bevölkerung, so ändern sich im Laufe der Zeit auch die Gesetze. Andererseits: Werden die Gesetze geändert, so beeinflusst das auch die Moralvorstellungen der Bevölkerung.
Da die Menschheit älter als ihre Rechtssysteme ist, könnte man vereinfachend sagen, dass Rechtsprechung eine Ableitung von Moralvorstellungen ist. Es muss erst Vorstellungen von gut und böse, von richtig und falsch, geben, damit Gesetze geschrieben werden können. Diese Gesetze verfestigen dann die zugrunde liegenden Moralvorstellungen.
Rechtsprechung und Gesetze bringen uns nun gleich mitten rein:
Jedes Moralsystem dient der Kontrolle.
Ein gutes Beispiel dafür ist sicherlich das vorherrschende gesellschaftliche Moralsystem, das dem Individuum viele Dinge und Handlungen verbietet, die gleichzeitig jedoch „dem Staat“ erlaubt sind. Ein plakatives Beispiel: Nimmt ein Bürger dem anderen Bürger ohne Zustimmung etwas weg, so wird das Diebstahl oder Raub genannt und moralisch und strafrechtlich verurteilt. Nimmt jedoch „der Staat“ ohne Zustimmung seiner Bürger eben diesen Bürgern etwas weg, so wird das „Steuern“ oder „Abgaben“ genannt und gilt als moralisch und juristisch in Ordnung. Wegnehmen ohne Zustimmung ist es in beiden Fällen, jedoch sind die Akteure unterschiedlich. Und das vorherrschende Moral- und Rechtssystem differenziert da eben ganz deutlich zwischen staatlichen und privaten Akteuren. Hier kann also von Gleichbehandlung keine Rede sein – während in anderen Bereichen „Gleichbehandlung“ jedoch groß geschrieben und nötigenfalls auch juristisch durchgesetzt wird.
Moral (und als Ableitung davon Rechtsprechung) hat also wenig mit Logik und Prinzipien zu tun – und viel mit Werturteilen. Diejenigen, die richtungsweisende Entscheidungen treffen und eine Gesellschaft prägen, entscheiden, was als gut und böse, richtig und falsch, moralisch und unmoralisch, anzusehen ist. Diese Entscheidungen sind Werturteile der Entscheider – und aufgrund des Selbsterhaltungstriebes dieser Menschen müssen diese Werturteile notwendigerweise ihren Eigeninteressen dienen. Das heißt in der Praxis zum Beispiel, dass ein Richter, der aus Steuergeld bezahlt wird, tendenziell zu Gunsten des Finanzamtes entscheiden wird, nicht zu Gunsten des Bürgers, der versucht sich juristisch gegen die Zwangsabgaben zu wehren.
Wenn Moral sich aus den Werturteilen der Entscheider ergibt, dann drücken geltende Moralvorstellungen immer auch Machtverhältnisse aus. Die herrschende Klasse wird immer bestrebt sein, Moralvorstellungen in der Gesellschaft zu installieren bzw. zu erhalten, die ihrem Machterhalt dienen – während diejenigen, die an die Macht wollen, die Moralvorstellungen der Gesellschaft dahingehend beeinflussen wollen, dass sie selbst an Macht gewinnen. Das ist die simple Logik menschlichen Handelns. Jede Moralvorstellung, jedes „du sollst“ und jedes „du sollst nicht“ hat also einen Ursprung und dient einem Interesse.
Insofern es zu allen Zeiten, solange es Menschen gibt, auch Menschenherden gegeben hat (Geschlechtsverbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen… ) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältnis zu der kleinen Zahl Befehlender – in Anbetracht also, dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter den Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass durchschnittlich jetzt einem jeden das Bedürfnis darnach angeboren ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: „Du sollst irgend Etwas unbedingt tun, irgend Etwas unbedingt lassen“, kurz „du sollst“. Dies Bedürfnis sucht sich zu sättigen und seine Form mit einem Inhalte zu füllen; es greift dabei, gemäß seiner Stärke, Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein großer Appetit, zu und nimmt an, was ihm nur von irgendwelchen Befehlenden – Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurteilen, öffentlichen Meinungen – ins Ohr gerufen wird.
– Friedrich Nietzsche
Und unsere Köpfe sind voll von „du sollst“ und „du sollst nicht“ und bestimmen unsere Leben auf fundamentaler Ebene.
Wenn sich die Moralvorstellungen einer Gesellschaft ändern, verändert sich die Gesellschaft selbst, teils radikal. Beispielsweise gab es in westliche Gesellschaften viele Jahrhunderte lang Sklaven und Leibeigene. In der damaligen Moral galt das als völlig legitim – heute als moralisch und rechtlich undenkbar. Oder die Ehe – während sie früher oftmals tatsächlich fürs ganze Leben geschlossen wurde und Scheidung verpönt und geächtet war, sind heute Scheidungen völlig normal. Man sieht also auch hier wieder: Moral und Rechtsprechung ändern sich im Laufe der Zeit – was gestern noch erlaubt war, kann morgen verboten werden, was gestern noch verboten war, kann morgen erlaubt werden.
Ein weiters Beispiel: In einigen Bundesstaaten der USA wurde Cannabis legalisiert – im einen Jahr konnte man für Besitz oder Konsum verurteilt und inhaftiert werden, im nächsten Jahr konnte man Cannabis wie Wein in einem Fachgeschäft kaufen. Mit solchen Gesetzesänderungen ändern sich natürlich auch die gesellschaftlichen Stigmatisierungen. Und gleichzeitig gingen gesellschaftliche Veränderungen der Gesetzesänderung voraus.
Moral und Recht sind also gewissermaßen wie Henne und Ei. Was im Gegensatz zu ihrem Ursprung jedoch ganz klar ist: Sie schränken das Individuum ein. Das gilt vor allem für die Moral, wirkt diese doch dauerhaft in der Psyche, schon lange bevor es überhaupt zu konkreten Absichten oder Handlungen kommt. Rechtsprechung hingegen wird typischerweise erst bei tatsächlichen Handlungen oder konkreten Planungen dazu relevant. Meine Moralvorstellungen beeinflussen dauerhaft meinen Denkprozess, und damit welche Wege ich überhaupt einschlage. Rechtsprechung wird dann ggf. auf den jeweiligen Wegen relevant. Beispielsweise werde ich mich nie mit den rechtlichen Feinheiten einer Unternehmensgründung beschäftigen, wenn ich Unternehmertum für unmoralisch halte, weil Unternehmer für mich fiese Kapitalistenschweine sind und ich daher lieber demonstriere als zu gründen.
Ergibt es Sinn, etwas subjektives und veränderliches wie Moral und Recht als unumstößliche Leitplanken für das eigene Handeln zu betrachten? Oder ergibt es mehr Sinn, Moral und Recht eher als Erwartungshaltungen der Herde zu verstehen? Was ganz bestimmt Sinn ergibt, ist, gegebene Moralvorstellungen zu hinterfragen und sich zu überlegen, wem sie nutzen und wem sie schaden.
Das alles soll nicht im
plizieren, dass Moral etwas schlechtes ist. Wer meint, alle Moral, alles Recht und alle Regeln seien fiese Fremdbestimmung, wird sich bald als komplett unterdrückt wahrnehmen – oder zwanghaft gegen alle Regeln rebellieren müssen. Und wer zwanghaft gegen alle Regeln rebelliert, muss bildlich gesprochen auch über jede rote Ampel fahren. So wird man nicht alt.
Statt dessen liegt die Lösung im bewussten Entscheiden.
Jedes Moralsystem dient der Kontrolle. Und wenn ich mir meine Moral selbst aussuche, dann kontrolliere ich mich selbst.
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