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Der Befreiungsmythos und die Deutschen

7. Mai 2021
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Der angebrochene Wonnemonat verschont uns nicht mit seinen historisch bedeutsamen Tagen. Wurden wir letzte Woche noch mit dem Kampftag der Arbeiterklasse behelligt, widmen wir uns heute mal einem Tag, welcher in der neubürgerlichen, vor antifaschistischer Pseudotugend strotzender Wohlfühlgesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts ein besonders heißes Eisen darstellt, sofern er nicht aus linker Perspektive beurteilt und gefeiert wird: dem Tag der Befreiung, jenem 8. Mai also, an dem das Oberkommando der Wehrmacht vor den alliierten Befehlshabern kapitulierte und der Zweite Weltkrieg in Europa beendet wurde.

Auf rechter Seite gestaltet sich eine Beurteilung dieses Tages und des Befreiungsnarratives als schwierig, nicht zuletzt deshalb, weil bei einer Abweichung von der allgemeingültigen Erzählung die Vorwürfe der NS-Apologetik nicht lange auf sich warten lassen. In den folgenden Zeilen soll nun ein kurzer Versuch unternommen werden, aus einer reaktionären Perspektive über diesen Tag, das damit verbundene gesellschaftliche Narrativ und die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges für das Abendland ein Urteil zu fällen.

Nach dem Ende des Krieges etablierten sich zwei Erzählweisen: Im Osten wurde die Sowjetunion als großer Sieger über Hitler und den Faschismus dargestellt, die sich, nachdem sie hinterrücks überfallen wurde, mit größtmöglicher Opferbereitschaft den faschistischen Räuberbanden entgegenstellte und es fast im heroischen Alleingang schaffte, das Deutsche Reich niederzuringen und den Osten Europas zu befreien.

In der DDR etablierte man ebenfalls diese Geschichte, der sowjetische Satellitenstaat betrachtete sich selbst auch nicht als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches, sondern verstand sich als ein „Neues Deutschland“, das sich von seinem reaktionären Ballast zu lösen versucht. Die Erinnerungskultur galt vor allem dem großen Bruder und Roten Armee als Befreier sowie den tapferen Kommunisten, die den Nazis Widerstand leisteten. Allen voran wurde Ernst Thälmann, Führer der KPD in Weimarer Zeiten und Gefangener in Buchenwald bis zu seiner Hinrichtung 1945, als Märtyrer verehrt; unzählige Straßen und Plätze wurden nach ihm benannt und heißen teilweise bis heute noch so.

Anders in der Bundesrepublik: Dort herrschte eine gewisse Verdrängung, der 8. Mai wurde vorrangig als Niederlage empfunden. 40 Jahre nach Kriegsende setzte sich schließlich durch die Rede des damaligen Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 der Begriff „Tag der Befreiung“ durch: Zwar erlebte das Vaterland eine völlige Niederlage, aber dafür haben die Westalliierten uns Deutschen Freiheit und Demokratie geschenkt.

Während die Ost-Version nur noch in kommunistischen Kreisen unhinterfragt geglaubt wird, hat sich dieses West-Narrativ zum Standard entwickelt. Dabei wurde die ambivalente Bewertung dieses Tages seitens Weizsäckers immer mehr in eine Richtung verschoben, der Teil mit der Niederlage und der Zerschlagung des Deutschen Reiches geriet in den Hintergrund.

Heutzutage dominiert im Mainstream fast ausschließlich die Deutung als Tag der Befreiung, an dem die Alliierten den bösen Deutschen den richtigen Weg zeigten: Eben als jener Tag, an dem sich die „Almans“ so richtig am „Schuldkult“ ergötzen können. Mittlerweile werden auch die Sowjets als Befreier gefeiert, was in der frühen Bundesrepublik ein Unding gewesen wäre.

Kommen wir nun zur Bewertung des Befreiungsbegriffes. Was den Westen Europas angeht, so will ich den gar nicht anzweifeln. Die Menschen jenseits des Rheins betrachteten, sofern sie nicht aus Überzeugung mit den Nationalsozialisten kollaborierten, die Alliierten als ihre Befreier, deren einrückenden Streitkräfte jubelnd im Empfang genommen wurden.

Doch um im Osten von einer „Befreiung“ zu sprechen, bedarf es entweder Unkenntnis, Dummheit oder schlicht Zynismus. Die allermeisten Völker Osteuropas hassten die Sowjets: Die Polen hassten sie mindestens genauso wie sie die Deutschen hassten, die Ukrainer hassten sie, weil sie sie in den 30er Jahren im Holodomor elendig verhungern ließen, und die Balten hassten sie wegen des dreisten Raubs ihrer jüngst erworbenen Unabhängigkeit durch das Moskauer Regime.

Nicht unbedingt aus ideologischer Überzeugung begrüßten die Menschen im Baltikum und in der Ukraine die einmarschierende Wehrmacht als Befreier, sondern weil sie aus bitterer Erfahrung zur Ansicht gelangten, dass wohl kaum etwas Schlimmeres als das Sowjetregime existieren könne; nicht zuletzt aus diesem Grunde kämpften nicht wenige Ukrainer und Balten auf Seiten der Achsenmächte.

Selbst nachdem das Deutsche Reich in Trümmern lag, versuchten sich die Menschen im Baltikum in einem verzweifelten Partisanenkrieg von den Sowjets zu befreien. Den Osteuropäern blieb im Zweiten Weltkrieg nur die Wahl zwischen Pest und Chorela; egal, welche Entscheidungen sie trafen, an deren Konsequenzen mussten sie zwangsläufig zu Grunde gehen.

In den 45 Jahren der Sowjetherrschaft wurden die Abneigungen gegenüber den Deutschen durch einen regelrechten Hass auf die Kommunisten und die Russen überlagert, diese Erfahrung hallt bis heute in der prowestlichen Politik vieler ehemaliger Ostblockstaaten wider (vor allem im Baltikum und der Ukraine).

Nun zu Deutschland: Kann man hier von Befreiung sprechen? Bei der Ablehnung dieses Begriffes kann es schnell passieren, dass einem der Vorwurf der NS-Relativierung um die Ohren gehauen wird; bei pöbelhafteren Linken fällt der Begriff „Herumopfern“. Aber das ist nicht das Ziel: Wenn das Wort „Befreiung“ ernst genommen werden soll, so müsste es heißen, dass der Nationalsozialismus als Ideologie entfernt und das Deutsche Reich, in seiner Form vom Januar 1933, sich selbst überlassen würden.

Dass das keine realistische Option war, ist mir bewusst, aber warum sollte ich denn von Befreiung sprechen? Oder anders gefragt: Vergewaltigen Befreier deine Schwester, deine Mutter, deine Tochter? Zerbomben Befreier das historische Zentrum deiner Heimatstadt, und nehmen dabei nicht nur den Tod der „Befreiten“ in Kauf, sondern auch die Zerstörung von jahrhundertelang gewachsener Kultur? Vertreiben dich die Befreier mit Waffengewalt von deinem Hof und berauben dich deiner Heimat?

Natürlich nicht. Das machen Eroberer, so behandeln Sieger den Besiegten. Und so sahen die Alliierten auch das Deutsche Reich: Als den Eroberten, nicht den Befreiten. Krieg wurde nicht gegen den Nationalsozialismus geführt, sondern gegen Deutschland an sich; vor allem Churchill und Roosevelt sahen zwischen dem Nationalsozialismus, den Deutschen und auch dem Preußentum keinen Unterschied.

Mit dem Zynismus, wie ihn manche Linke gerade bei diesem Thema oft genug an den Tag legen, lässt sich alliierte Nachkriegspolitik gegenüber den Deutschen sehr wohl als „Befreiung“ bezeichnen: Schließlich implementierten die Alliierten mit der Frankfurter Schule im Westen und dem Realsozialismus im Osten zwei linke, destruktive Ideologien, die auf lange Zeit die Deutschen „befreien“ würden: nämlich von ihrer Kultur, von ihren Traditionen, von sich selbst. Also, wieso wird denn ein Hehl aus dieser nüchternen Machtpolitik der Alliierten gemacht?

Kurz gesagt: Es geht um Legitimation. Die Sieger brauchen den Befreiungsmythos, um ihre Herrschaft über Europa und Deutschland durchsetzen zu können. Vor allem benutzten die zwei Supermächte des Kalten Krieges das Wort „Befreiung“, wenn es darum ging, ihre jeweiligen politischen Systeme irgendwelchen Drittstaaten aufzuzwingen.

Die Amerikaner reden auch heute noch davon, wenn sie im Begriff sind, irgendeinen ihnen missliebigen Diktator in Nahost wegzubomben. Auch die Bundesrepublik nutzt die Befreiung zur Rechtfertigung ihres Daseins: so wie das Kaiserreich im Krieg gegen Frankreich geschmiedet wurde und das Dritte Reich die Machtergreifung 1933 als revolutionäre Geburt seiner selbst verstand, so sieht sich die BRD als ein durch Güte der Westalliierten befreiter Hort der Freiheit und der Demokratie, mit dem Ziel, Buße zu tun und den Sündenfall des deutschen Volkes wieder gut zu machen. Zumindest die Berliner Republik seit 1990 sieht sich so.

Gleichzeitig nutzt der heutige Mainstream den Befreiungsmythos, so wie eigentlich jeden noch so an den Haaren herbeigezogenen Bezug der Rechten zum Nationalsozialismus, um jegliche rechte Opposition klein zu halten und zu diskreditieren und einen antifaschistischen Kampf heraufzubeschwören.

Der Publizist Henryk M. Broder stellte bezeichnenderweise mal fest, dass, je länger der Untergang des Dritten Reiches zurückliegt, der Widerstand gegen dieses Sinnbild des Bösen immer größer werde. Er legt dabei eines offen: Das kollektive Gedächtnis an den Befreiungsmythos schwindet (der zeitliche Abstand zwischen uns und dem Kriegsende ist mittlerweile größer als der zwischen Kriegsende und der Gründung des Bismarckreiches), und dieser Mangel muss mit neuer Propaganda ausgeglichen werden.

Damit einher geht auch der fehlende natürliche, emotionale Bezug der jungen Generationen zu den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, weswegen dieser erst künstlich erschaffen werden muss (würde diese Bindung allein auf natürliche Weise entstehen, d. h. durch Erzählungen von Augenzeugen, so würde die „Befreiung“ eben nicht diese große Rolle spielen).

Neben der zeitlichen und emotionalen Distanz kommt bei mir, als Reaktionär, noch eine ideologische Distanz hinzu. Keine der drei im Zweiten Weltkrieg um die Vorherrschaft kämpfenden Ideologien war oder ist reaktionär, alle drei sind sie Ausgeburten der Moderne, seelenlose Ersatzreligionen der im Sterben liegenden abendländischen Kultur.

Wann der Untergang anfing, ob nun 1517, 1789 oder 1871, darüber streiten die Reaktionären, aber in einem sind sie sich einig: spätestens in den die Champagne durchziehenden Schützengräben jenes ersten Terroraktes der Moderne siechte das alte Deutschland endgültig dahin, über eine Dekade bevor die Nationalsozialisten die Macht an sich rissen.

In Anbetracht dieser bitteren Erkenntnis sollte der 8. Mai 1945, der Tag, an dem zwei Ideologien der Moderne über eine dritte siegten, nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern auch im Kontext der kulturellen wie seelischen Verheerungen in ganz Europa, als das gesehen werden, was er ist: als Leichenschändung.

Fridericus Vesargo

Aufgewachsen in der heilen Welt der ostdeutschen Provinz, studiert Vesargo jetzt irgendwas mit Musik in einer der schönsten und kulturträchtigsten Städte des zu Asche verfallenen Reiches. Da er als Bewahrer einer traditionsreichen, aber in der Moderne brotlos gewordenen Kunst am finanziellen Hungertuch nagen muss, sieht er sich gezwungen, jede Woche Texte für die Ausbeuter von der Krautzone zu schreiben. Immerhin bleiben ihm noch die Liebesgrüße linker Mitstudenten erspart…

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