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Asyl für alle Afghaninnen? Das steckt hinter dem EuGH-Urteil

10. Oktober 2024
in 3 min lesen

„Urteil des EuGH: Über 20 Millionen afghanische Frauen können sofort Asyl in der EU beantragen“, titelt „NIUS“, „Europa darf die Augen nicht verschließen“, kommentiert die „Tagesschau“, und „EuGH-Urteil zu Afghaninnen: Österreich bleibt bei Einzelfallprüfung“, berichtet der „Standard“. Was ist vorgefallen, warum hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, was hat der EuGH entschieden, und wie wirkt sich das auf die EU-Mitgliedsstaaten aus?

1. Was ist vorgefallen?

Vorliegend geht es um zwei Afghaninnen, die in Österreich Anträge auf Asyl gestellt haben. Direkt aus Afghanistan kamen beide jedoch nicht. Die erste Frau war nach eigener Aussage im Kindesalter mit ihrer Mutter aus Afghanistan in den Iran geflohen, weil ihr Vater sie verkaufen wollte. Dort habe sie gelebt, bevor sie nach Griechenland gereist sei, wo sie ihren jetzigen Mann kennengelernt habe, und beide heirateten. 2015 reiste sie dann nach Österreich ein, wo ihr Ehemann inzwischen lebte, und stellte den Asylantrag. Diese Geschichte hielt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht für glaubwürdig und lehnte den Asylantrag ab.

Die zweite Afghanin habe selbst nie in Afghanistan gelebt, sondern sei im Iran aufgewachsen. Mit 13 Jahren stellte sie in Österreich einen Antrag auf Asyl, nachdem ihr Bruder dort bereits als subsidiär schutzberechtigt galt. Sie führte an, sie könne im Iran aufgrund eines fehlenden Aufenthaltstitels keine Schule besuchen und ihre Mutter nicht arbeiten. Sie wolle in Freiheit leben und die gleichen Rechte haben wie Männer. Darin sah das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl jedoch keine tatsächliche Verfolgungsgefahr gegeben und lehnte auch diesen Asylantrag ab.

2. Warum hat der EuGH entschieden?

Die Beschwerden der Afghaninnen blieben auch vor dem Bundesverwaltungsgericht erfolglos. Dagegen wehrten sie sich nun vor dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof. Und der wandte sich zunächst an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass der Großteil des nationalen Asylrechts durch EU-Normen und -Richtlinien überlagert ist. Sprich: Entweder gelten die EU-Normen statt des nationalen Rechts oder das nationale Recht ist in ihrem Sinne auszulegen. So ging es auch im vorliegenden Fall nicht etwa um österreichisches Asylrecht, sondern um die Frage, wie das österreichische Gericht die europäische Richtlinie RL 2011/95 auszulegen habe.

Und die Auslegung der EU-Normen liegt in der Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs. Sollten nationale Gerichte – wie im vorliegenden Verfahren – Zweifel an der Auslegung des EU-Rechts haben, haben sie die Möglichkeit, ihr Verfahren auszusetzen und den EuGH um eine Auslegung der Normen zu bitten. Mit einem solchen Ersuchen im „Vorabentscheidungsverfahren“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof an den EuGH gewendet.

3. Was hat der EuGH entschieden?

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil folglich auf die Fragen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs geantwortet. Das österreichische Gericht hatte zwei Fragen gestellt (hier gekürzt):

  1. Können afghanische Frauen aufgrund der Lage in Afghanistan unter dem Taliban-Regime allgemein als „verfolgt“ im Sinne des Artikels 9 der Richtlinie gelten?
  2. Kann daraus folgen, dass für die Gewährung des Asyls allein die Eigenschaften „Frau“ und „afghanische Staatsbürgerschaft“ ausreichen, ohne den Antrag nach Artikel 4 der Richtlinie individuell zu prüfen?

Kurz gesagt: Der EuGH hat beide Fragen bejaht. So sei Artikel 9 der Richtlinie dahingehend auszulegen, dass auch eine „Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen“ als Verfolgung zu werten sei. Besonders hervorgehoben hat das Gericht dabei: den fehlenden rechtlichen Schutz „vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, die Verpflichtung, den Körper vollständig zu verdecken und das Gesicht zu verhüllen…“. Daraus folgerte das Gericht dann auch die Antwort auf die zweite Frage. Demnach sei Artikel 4 der Richtlinie so auszulegen, dass auf die individuelle Prüfung der Tatsachen und Umstände im Rahmen des Asylantrags seitens der Behörde verzichtet werden könne, sofern die Antragstellerin Afghanin sei.

4. Wie wirkt sich das auf die EU-Mitgliedsstaaten aus?

Bedeutet das also, dass „NIUS“ recht hat und demnächst 20 Millionen Afghaninnen mit Asylanträgen vor Europas Toren stehen, die alle bewilligt werden müssen? Oder dass das Gericht Europa dazu aufgefordert hat, die Augen nicht zu verschließen, wie es die „Tagesschau“ kommentiert? Nicht wirklich. Am nächsten kommt der Wahrheit noch die Überschrift des „Standard“.

Denn direkte Wirkung hat das Urteil des EuGH nicht. Es gibt die Auslegung der EU-Normen vor, die die nationalen Gerichte und Behörden bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen haben. Die konkrete Entscheidung treffen sie aber selbst. Zwei Aspekte sollen hier hervorgehoben werden: Der EuGH sagte, man KANN auf eine individuelle Überprüfung der Asylanträge im Falle von afghanischen Frauen verzichten, NICHT, dass man es MUSS. Die österreichischen Behörden werden dementsprechend an der Einzelfallprüfung festhalten. Im Land werden die Afghaninnen unabhängig von dem Urteil des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs bleiben. Ob sie ihren begehrten Asylstatus erhalten, ist zwar noch offen. Subsidiären Schutz haben sie aber bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhalten. Sie kamen zwar beide gar nicht aus Afghanistan – also dem Land, in dem ihnen Verfolgung drohe – nach Österreich, aber das spielt in dem Verfahren keine Rolle. Jetzt sind sie eben da.

Felix A. Cassel

Die Rechtsphilosophischen Ideen Carl Schmitts sind für den Bonner Jurastudenten genau so wichtig wie sein Zweitname - auch wenn die Redaktion ihn zur Abkürzung zwingt. Anders als Schmitt schreibt er aber nicht „zu Juristen und für Juristen“, sondern übersetzt richterliche Entscheidungen der "BRD im Endstadium" für den einfachen Bürger - ein typischer "Rechts-populist" also.

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