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Buchkritik: Der Block (James Graham Ballard)

24. Oktober 2022
in 2 min lesen

Von Wolfgang Thurmann

Der Engländer J. G. Ballard (1930 – 2009) galt schon immer als der aufregende Querverbinder zwischen SF-Literatur und dystopischer Prosa, die sich zuletzt oft in das Phantastische ausweitet. Mit enormer Imaginationskraft und literarischer Brillanz schildert er lakonisch Ausnahmesituationen wie z. B. in den Romanen Die Dürre oder Kristallwelt. „Ballardian“ ist sogar eine eigene Wortprägung für soziale und ökologische Umbrüche und deren Auswirkungen auf die menschliche Psyche geworden. Der Autor bedient sich in seinen Beschreibungen stets ausgiebig beim Surrealismus und der Psychoanalyse. Und Der Block (1975) ist so ein Roman, der heute aktueller nicht sein könnte.

Der Mediziner Dr. Robert Laing bezieht, frisch geschieden, in London ein Luxusappartement in neu hochgezogenen Wohnblocks samt Park, die ökologisch und auch sonst autark zu sein scheinen. Geschäfte, Banken und diverse Freizeiteinrichtungen bestechen zuerst den Eigentümer, aber die Drangsal des engen Zusammenlebens beginnt sich plötzlich negativ auf alle Bewohner auszuwirken. Es passieren zuerst kleinere Zwischenfälle und Demolierungen, dann aber grobe Streitigkeiten und vollkommen asoziales Verhalten, das schließlich in Raub, Folter, Totschlag und Mord endet. Es bilden sich so eigene Stockwerk-Gangs, die gegeneinander wie Stammeskrieger kämpfen, die Polizei bleibt dabei außen vor, ja man genießt schließlich geradezu alle diese Auseinandersetzungen und zerstört wissentlich noch das, was von der vermeintlichen Zivilisation übriggeblieben ist. Laing sieht sich am Schluss als ein wacher Jäger, welcher sich in den nunmehrigen Gegebenheiten einzurichten hat.

Diese wahre Horror-Story über eine ursprünglich beabsichtigte sozial wie technisch perfekte Welt und ihren Verfall unterstellt den Planern eher nur subtil, dass sie jene Bruchstellen in der schönen neuen Wohnwelt auch gar noch irgendwie selbst beabsichtigt hätten. J. G. Ballard misanthropischer Pessimismus weist indirekt auf einen überbevölkerten Rattenkäfig hin, ohne groß mit einer moralischen Signalkelle zu winken. Auf alle Fälle ist das geradezu prophetische Buch auch als bemerkenswerte, höchst spannende Sozialstudie wahrzunehmen, der es auch an anthropologischen Grunderkenntnissen nicht mangelt.



Nun lebt der Verfasser dieser Zeilen selbst in einem solchen „Wohnparadies“ des nunmehr 21. Jahrhunderts, das jetzt dazu noch vom dauernd angekündigten Blackout bedroht zu sein scheint. Ursprünglich wurde die Wohnsituation als ruhig und gutbürgerlich angepriesen und ich ging somit ziemlich blind in die Falle. Der laufende Zuzug von Fremden, völlig ungezogenen und spätnachts lärmenden Studenten macht das Leben allmählich zu einer Art Vorhölle. Sachbeschädigungen, Vermüllung, Schmutz und kläffende, in die Wiese defäkierende Köter sind Alltag geworden, aggressive Siedlungsbewohner mit unverhüllten Drohhaltungen ebenso.

Nebenan schlägt ein Café längst über den Zapfen, das Gegröle ist kaum auszuhalten, Waschmaschinen donnern auch noch um Mitternacht und vor dem Haustor versammeln sich betrunkene oder bekiffte Jugendliche, um die begehrten Mädchen heraus zu läuten. Die Tiefgarage ist seit Jahren gänzlich versifft, ebenso die niemals adaptierten Schutzräume. Die Nachbarn bleiben einander zumeist fremd und solidarisieren sich natürlich darum auch nicht gegen solche Zustände. Beschwerdeschreiben an die Hausverwaltung bleiben immer öfter unbeantwortet, bestenfalls erfolgen inhaltsleere Zwischenerledigungen, wobei das Faktum der allgemeinen Verwahrlosung kleingeredet wird. Der Hausbesorger hat bereits lange schon resigniert, schimpft über Gott und die Welt und sehnt seine Pension herbei.

Nun wird man dazu sagen: „Na und? Bei uns ist es genau das Gleiche!“ Wenn nun aber tatsächlich die große Krise nebst Mangelwirtschaft und Unruhen oder gar der herbeigeredete Blackout oder ein Fallout über uns kommen, wie werden sich die konsumgewöhnten, asozialen Egoisten und verzogenen Halbwüchsigen, die übrigens nun auffallend gerne mit Dekowaffen hantieren, dann verhalten? Müssen wir unsere Türen verrammeln, den Plünderern in den nahen gelegenen Supermärkten möglichst aus dem Weg gehen, die Hydranten bewachen oder unsere Fahrzeuge in Sicherheit bringen und etwa vorhandene Jagdwaffen aus dem Tresor hervorkramen?

J. G. Ballard hat in seinem Roman jedenfalls die Ordnungsmacht vollkommen abgeschrieben, denn diese wird mit sich selber oder mit dem Schutz der Nomenklatura genug beschäftigt sein. Also doch Endzeit? Vielleicht nicht, wenn wir rechtzeitig noch „Nester“ bilden, innerhalb der Familien, Verwandtschaften, den sympathischen Nachbarn und Freunden. Der Mensch ist und bleibt trotz seiner schauerlich brutalen Aggressionsausbrüche letztlich immer auch ein durchaus verlässliches soziales Wesen. Das muss man jetzt endlich wieder begreifen und da, wo der Zusammenhalt möglich scheint, diesen sofort – selbstorganisierend und entschlossen – in Angriff nehmen. Denn Solidarisieren heißt Überleben!

Gastautor

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