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Cicero-Leser, Symbolbild

Cicero – Das extrem harte, extrem kritische Magazin für alle Reihenhausbesitzer

22. März 2022
in 4 min lesen

In der Vergangenheit habe ich mich des Öfteren über den „Cicero“ ausgelassen. Jenes liberal-konservative Blättchen (na gut, eine 41.000er-Auflage ist vielleicht mehr als ein Blättchen), das es so gekonnt schafft, den werteorientierten restliberalen Bildungsbürger zu adressieren, aber ihn auf keinen Fall zu überfordern. Gedanken konsequent und schmerzhaft zu Ende denken? Nicht mit uns!

Angeschmiert im blubbernd-warmen Mainstream surft das Debattenmagazin munter vor sich hin und kritisiert hier ein bisschen die (harte) Corona-Politik oder den bösen Putin, da ein wenig die doofe SPD mit ihren zu linken Ansichten. „Cicero“-Leser haben einen Puls von 70, der sich beim kritischen Artikel über die Grünen auf 75 erhöht. Alles entspannt. Die Ausnahme liegt bei mir.

Ich habe dieses Blatt gefressen – und ich kann mir nicht einmal genau erklären, warum. Vielleicht ist es diese dröge Leichtfüßigkeit, mit der der „Cicero“ jeder intellektuellen Herausforderung aus dem Weg geht, vielleicht ist es dieses unnachahmliche Lesegefühl, das dem Hineinsinken in einen weichen Sessel gleicht. Nur eben nicht bei mir. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag dann auf mein unbequemes Roller-Sofa sinke und schnell durch Instagram blättere, bleibe ich wieder und wieder bei diesem gottverdammten Magazin hängen. Heute bei diesem Beitrag:

Und sofort wird mein unbequemes Sofa zum intellektuellen Wespennest, und mein Puls steigt auf 110. Wenn man Chef einer oppositionellen Zeitung ist, denkt man gelegentlich über den Verfassungsschutz nach: Liest schon jemand die Chats mit? Wer ist eigentlich dieser merkwürdige Gastautor? Was macht man, wenn doch einmal eine Hausdurchsuchung kommt? In diesem Moment denke ich nur eines: Ich lebe in der „Truman Show“, und der „Cicero“ wurde gegründet, um mich mit porösen Herzkranzgefäßen frühzeitig ins Grab zu bringen.

Was? Zum? Teufel? Lesen Sie den Beitrag – das Interview mit Boehme-Neßler – noch einmal ganz genau durch!

„Angesichts des fehlenden Fremdschutzes erkennt der Rechts- und Politikwissenschaftler Volker Boehme-Neßler in der Einführung einer Impfpflicht nichts Geringeres als einen Angriff auf die Menschenwürde.“

Wie intellektuell unterbelichtet (oder bösartig) muss dieser Mann samt einer derartigen Aussage sein? Wie erbärmlich der „Cicero“ in der Scheinstillung des Freiheitsdurstes seiner bodenständigen Leser? „Nichts Geringeres!“ Wow. Krass. Eine harte Formulierung. Eine Impfpflicht ist „nichts Geringeres“ als ein Angriff auf die Menschenwürde. Wissen Sie, an was mich der „Cicero“ erinnert? An diese 60-Jährigen, die immer noch mit Lederjacke rumlaufen und den Rebellen spielen. Diese Udo-Lindenberg-Verschnitte, die jegliche Bindung zur Realität verloren haben und denken, mit ihrer FDP-Stimme dem Establishment eins ausgewischt zu haben. „Mein Kreuz für die Freiheit“. Ich kämpfe für „nichts Geringeres“ als die Menschenwürde!

Aber das war ja nur der Anfang meiner Kritik. Es kommt noch schlimmer, viel schlimmer. „Angesichts des fehlenden Fremdschutzes“ ist der Teilsatz, der die ganze scheinliberale Diarrhö erst einmal einleitet. Die das Spielfeld eröffnet, auf dem die klapprigen „Freedom-Fighter“ Boehme-Neßler und Mr. „Cicero“ einen Sturmangriff im Schneckentempo gegen einen Scheingegner starten. Irgendwo daneben spielen die Erwachsenen auf dem richtigen Spielfeld: Eine erdrückende Übermacht an Staat prügelt auf einige Restprozente freiheitlichen Widerstands ein. So sieht die Realität aus.

Zurück zum Inhalt: Für den „Rechts- und Politikwissenschaftler“ ist also die fehlende Fremdwirkung der Impfung die Bedingung dafür, dass eine Zwangsimpfung ein Angriff auf die Menschenwürde ist. Daraus kann man also logisch ableiten: Würde die Impfung einen Fremdschutz bieten, wäre sie kein Angriff auf die Menschenwürde. Übertragen wir den konkreten Fall auf eine übergeordnete Philosophie: Demnach sieht Boehme-Neßler einen Angriff auf die Menschenwürde als gerechtfertigt an, wenn das Ergebnis dem Gemeinwohl dient.

Was für ein ungeheuerlich-totalitärer Fehlschluss! Mit dieser Begründung, die ja auch bei den Ampelparteien regelmäßig angeführt wird, kann man schlichtweg alles begründen: Angefangen beim Enteignen einzelner Gruppen zum größeren Gemeinwohl über das physische Separieren für das größere Gemeinwohl bis hin zur Vernichtung von Menschen – für das größere Gemeinwohl. Menschenwürde, so Boehme-Neßler, ist offensichtlich nur eine relative Eigenschaft, die man zum Wohle des Kollektivs einschränken kann.

Wir können von Glück sprechen, dass die Impfung so wirkungslos ist. Hielte sie, was sie verspricht, würde ein nicht geringer Teil der intellektuellen BRD-Einzeller sich hinter einen allgemeinen Impfzwang stellen. Weil sie einige Dinge nicht verstanden haben: Menschenwürde, vor allem das Recht auf körperliche Unversehrtheit, muss immer ein absolutes Recht sein, das man nur in Ausnahmefällen minimal einschränken darf, ansonsten eröffnet man rabulistischen Freiheitsfeinden Tür und Tor: Wir verbieten das Autofahren, weil die zahlreichen Unfälle dem Gemeinwohl abträglich sind. Selbst die beste Impfung der Welt sollte niemals als Begründung dafür ausreichen, einem denkenden und fühlenden Individuum eine Substanz quasi gewaltsam zu injizieren.

Dass in den letzten Jahrzehnten durch die sozialistischen Politiker aller Couleur das „Allgemeinwohl“ – ein klassisches Wieselwort – zu gottgleichem Status erhoben wurde, um vom postpotenten Bundesdeutschen Wählerstimmen abzugreifen, ist eine Vorbedingung dafür gewesen, dass man sich mit derartig totalitären Anwandlungen auseinandersetzen muss. Karl Lauterbach und seine Helfershelfer schauen mir wenigstens offen und ehrlich ins Gesicht und sagen: „Wir wollen dich spritzen, deine Rechte sind uns egal.“ Der „Cicero“ hingegen, in Form seines Gesprächspartners, bekennt nicht einmal da Farbe. Für ihn ist der kollektive Utilitarismus die Legitimierung einer Zwangsimpfung – hat die Impfe keinen Effekt auf die Volksgesundheit der 82 Millionen Nicht-mehr-ganz-Deutschen, erst dann gesteht man mir gnädig meine Freiheit zu, mich selbst um meine Gesundheit zu kümmern.

Das alles schnallt der „Cicero“-Leser schon gar nicht mehr. In schicken Vorstadtsiedlungen, Reihenhaus an Reihenhaus, lügt er seinem Spiegelbild seit Jahren ins Gesicht, duckmäusert und arschkriecht, um irgendwie seine 4.000 Euro Einkommen (so viel verdienen laut Mediadaten 47 Prozent der „Cicero“-Leser) nach Hause zu bekommen und seinen noch 500 Jahre andauernden Kredit abzubezahlen. Aber dann, nach Feierabend, kommt seine freiheitliche Stunde. Er sinkt in seinen Designersessel, schlägt den „Cicero“ auf, liest das Gespräch mit Boehme-Neßler, nickt langsam und bedächtig und erfreut sich an seiner liberalen Gnade gegenüber diesen Ungeimpften. Wenn die Impfung nichts bringt, darf man diesen Querdenkern ruhig einmal ein Zugeständnis machen.

Florian Müller

Der Sklaventreiber-Chef hat diverse Geschwätzwissenschaften studiert und nach eigenen Angaben sogar abgeschlossen. Als geborener Eifeler und gelernter „Jungliberaler“ freundete er sich schnell mit konservativen Werten an – konnte aber mit Christentum und Merkel wenig anfangen. Nach ersten peinlichen Ergüssen entdeckte er das therapeutische Schreiben in der linksradikalen Studentenstadt Marburg, wurde Autor für die „Blaue Narzisse“ und „eigentümlich frei“. Ende 2017 gründete er mit Hannes die Krautzone.

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