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Eine kurze Geschichte Afghanistans

3. September 2021
in 7 min lesen

Man kann sich vor den Nachrichten aus Afghanistan kaum noch retten. Während sich das rechte Lager an Talibanmemes erfreut und sich vor ein neues 2015 fürchtet, können die meisten Linken die Tatsache, dass in Kabul nun doch keine Toiletten für das „dritte Geschlecht“ gebaut werden, kaum verkraften.

Alle fragen sich, was um alles in der Welt der Westen dort die letzten 20 Jahre gemacht hat. Doch welche Geschichte, in deren Verlauf die USA nicht die Ersten waren, die an der Eroberung dieses Landes scheiterten, hat Afghanistan? Wer sind „die Afghanen“ überhaupt?

Die Gebiete, die heute zum afghanischen Staate gehören, standen lange unter der Fremdherrschaft größerer Reiche. So verleibte sich das altpersische Achämeniden-Reich das heutige Afghanistan ein, später wurde es von Alexander dem Großen erobert. Danach etablierte sich ein griechisches Diadochenreich – als Diadochen werden die Generäle Alexanders bezeichnet, die sich nach seinem Tod um dessen Erben stritten – in diesem Gebiet; zu dieser Zeit wurde die Region nach der Stadt Baktra (heute: Balch) als „Baktrien“ bezeichnet.

Nach dem Zerfall des griechischen Staates erlangten die iranischen Parther die Kontrolle über die Region, ehe sie von dem Sassanidenreich – auch neupersisches Reich genannt – abgelöst wurde.

Die Sassaniden fielen schließlich dem Expansionsdrang der muslimischen Araber zum Opfer – und mit ihnen auch das jetzige Afghanistan. Das unwegsame Bergland machte es aber auch den arabischen Eroberern schwer, das Land zu islamisieren. Städte wie Balch hatten zwar arabischer Herrscher, die Bevölkerung aber blieb buddhistisch.

Das letzte Volk, die Nuristani, wurden erst 1896 zwangsislamisiert – bis dahin wurde ein Angehörige der Nuristani von den Muslimen verächtlich „sauze kafir“ (Sing., dt.: „grünäugiger Ungläubiger“) genannt. Ein weiteres Volk, das ebenfalls relativ spät zum Islam konvertierte – vermutlich erst im 11. Jahrhundert, waren die Paschtunen. Die Paschtunen stellten damals wie heute einen Großteil der Bevölkerung Afghanistans dar; sie leben innerhalb verschiedener Stammesverbände, haben im Zuge eine Islamisierung eine sehr strenge, orthodoxe Form der Religion des Friedens übernommen und besitzen zudem noch einen eigenen Rechts- und Ehrenkodex, den Paschtunwali.

Von den Persern, die ab 1501 in Form des schiitischen Safawiden-Reiches den Westen des Landes kontrollierten, werden die Paschtunen „Afghanen“ genannt. Im Südosten Afghanistans herrschten derweil die indischen Moguln, die regelmäßig Krieg gegen die Perser führten. Im 18. Jahrhundert gelang es den Paschtunen, in einer Revolte das persische Safawiden-Reich zu zerschlagen. Dieser Erfolg hielt jedoch nicht lange an, da sich die einzelnen paschtunischen Stämme untereinander zerstritten, sodass der neue persische Herrscher, Nader Schah Afschar, die verlorenen Gebiete wieder zurückerobern konnte.

Als Nader Schah 1747 ermordet wurde, stieg einer seiner Generäle, der Paschtune Ahmad Khan Abdali, zum neuen Schah auf. Dieser baute ein Machtzentrum im Osten des heutigen Irans auf, nach und nach umfasste sein Einflussgebiet ein Reich von der iranischen Stadt Isfahan im Westen bis zum indischen Delhi im Südosten. Da Ahmad Khan selbst aus einem Stamm im westlichen Siedlungsgebiet der Paschtunen stammte und er selbst unter einem persischen Herrscher als General diente, wurde er selbst wohl deswegen als „Afghane“ bezeichnet.

Seine Herrschaft, die das sogenannte Durrani-Reich begründete, gilt als Geburtsstunde des modernen Afghanistans, weshalb er auch Ahmad Shah Baba (dt.: „Ahmad Shah der Vater“) genannt wird. Ahmads Sohn machte Kabul zu seiner Hauptstadt. Das Reich zerfiel im frühen 19. Jahrhundert aufgrund von Erbschaftsstreitigkeiten und Rebellionen; Nachfolgestaat wurde das „Emirat Afghanistan“ im Jahre 1823.

In dieser Zeit geriet Zentralasien, und damit auch Afghanistan, das erste Mal in das Augenmerk europäischer Großmächte. Seit Peter dem Großen versuchte das Russische Reich, an einen eisfreien Hafen nicht nur in Europa, sondern auch am Indischen Ozean zu gelangen. Hierfür gab es z. B. Abmachungen zwischen Russland und dem napoleonischen Frankreich, gemeinsam gegen Großbritannien vorzugehen und Indien zu erobern.

Auch wenn dieses Vorhaben unrealisiert blieb, fürchteten die Engländer – die über ihr Spionagenetzwerk von den russischen Überlegungen erfahren hatten –, dass das europäische Gleichgewicht der Mächte mit einem zu starken Russland aus den Fugen geriet. Um dem Zarenreich zuvorzukommen, marschierten die Briten 1839 in Afghanistan ein: Damit wurde das Land Teil des „Great Games“, wie der anglo-russischen Konflikt um Zentralasien genannt wurde.

Auch wenn weite Teile des Landes inklusive Kabul rasch erobert werden konnten, waren die Briten dennoch nicht in der Lage, die Stämme komplett zu unterwerfen. Nach mehreren Aufständen zogen sich die Engländer 1842 ergebnislos zurück; während dieses Rückzuges wurden sie von bewaffneten Paschtunen überfallen und komplett aufgerieben. London hatte mit einer letzten Strafaktion gegen Kabul auf diesen Überfall reagiert, ehe man gedemütigt Afghanistan verließ.

Im Jahre 1878 starteten die Briten einen zweiten Eroberungsversuch, nachdem sich der afghanische Emir zu sehr an Russland angenähert hatte. Auch hier gelang es ihnen nicht, Afghanistan komplett in ihr Empire einzuverleiben, erhielten aber die Kontrolle über die afghanische Außenpolitik vertraglich zugesichert. Dies führte dazu, dass die Engländer das Emirat im Jahre 1893 dazu zwangen, etwa ein Drittel des Landes südöstlich der sogenannten Durand-Linie an Britisch-Indien abzutreten.

Diese Linie verlief direkt durch das Siedlungsgebiet der Paschtunen; noch heute bildet diese Linie die Grenze zum modernen Pakistan. 1919 schafften es die Afghanen, sich in einem dritten Krieg vom durch den Ersten Weltkrieg geschwächten Empire zu lösen. Damit wurde Afghanen, so wie es in den heutigen Grenzen existiert, ein unabhängiger Staat. Dieses neue Staatsgebilde war voll und ganz eine Folge des Great Games: Ein Vielvölkerstaat mit Turkvölkern wie die Usbeken ganz im Norden, iranischen Völkern im Norden und Nordosten sowie den Paschtunen, deren Großteil noch heute im heutigen Pakistan siedelt, im Süden des Landes.

Weiterhin ist der Wachankorridor – ein schmaler, gebirgiger Landstrich im Nordosten des Landes, der u. a. eine Grenze mit China bildet –, der eine Pufferzone zwischen dem Russischen Reich und Britisch-Indien bilden sollte, ein Relikt des „Great Games“.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts modernisierte sich das Land immer weiter: 1926 rief der regierende Emir das konstitutionelle „Königreich Afghanistan“ aus, später wurden Dinge wie ein Parlament, das Frauenwahlrecht und die Pressefreiheit eingeführt; zudem wurden erstmals in der Gesetzgebung alle Bewohner Afghanistans, und nicht nur die Paschtunen, als „Afghanen“ bezeichnet.

Weiterhin trieb der damalige Schah den Ausbau der Infrastruktur sowie die „Emanzipation“ der Frau voran. All diese Maßnahmen trafen auch auf Widerstand in der traditionellen afghanischen Bevölkerung. Das Königshaus wurde 1973 von Mohammed Daoud Khan, der zuvor zehn Jahre lang Ministerpräsident des Landes und zudem ein Cousin (!) des amtierenden Königs war, mit Unterstützung der kommunistischen Partei (!!) gestürzt. Die Republik wurde ausgerufen.

Der neue Präsident Daoud lehnte sich anfangs noch an die Sowjetunion an, verfolgte aber später eine blockfreie Außenpolitik. Er duldete damit auch keine Einmischung seitens der Sowjets, was dazu führte, dass die Kommunisten im Lande Daoud die Unterstützung versagten. In der „Saurrevolution“ von 1978 stürzten die Roten Daoud – ob mit oder ohne Hilfe seitens Moskau ist umstritten – und riefen die „Demokratische Republik Afghanistan“ aus. Die Kommunisten versuchten mit brutalen Mitteln, eine kommunistische Transformation im Lande durchzuführen – so wurde u. a. die Straßenverkehrsordnung der DDR eingeführt, die bis heute noch gilt.

Weiterhin sollte mithilfe staatlichen Terrors eine Bodenreform durchgesetzt, das Land säkularisiert und die Oberschicht enteignet werden. Auf dem Land bildete sich rasch bewaffneter Widerstand; dies war die Geburtsstunde der islamischen Mudschahidin in Afghanistan. Lehnten die Sowjets anfangs eine Intervention ab, entschloss sich Leonid Breschnew – überzeugt, dass sich der damalige Präsident Amin zur Not an die USA wenden könnte – 1979, sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschieren zu lassen. Amin wurde liquidiert und durch einen sowjettreuen Mann ersetzt.

Mit der Invasion sowjetischer Truppen begann ein Bürgerkrieg, der, auch wenn die „Spieler“ immer wieder ausgetauscht wurden, bis zu diesem Jahr anhielt. Weiterhin wurde Afghanistan nun zu einem Teil des Kalten Krieges: Um eine sowjetische Vormacht zu verhindern, unterstützen die USA in Form ihres Geheimdienstes CIA die Mudschahidin mit Geld und Waffen. Weitere Unterstützer der islamischen Kämpfer waren Pakistan und Saudi-Arabien.

Bald mussten die Russen aufgeben; 1989 zogen sie sich, so wie schon die Engländer vor ihnen, gedemütigt aus Afghanistan zurück. Die kommunistische Regierung in Kabul konnte sich noch bis 1992 halten. Im selben Jahr wurde der „Islamische Staat Afghanistan“ ausgerufen. Regiert wurde dieser Staat hauptsächlich von Angehörigen der Tadschiken, einem iranischen Volk im Norden des Landes. Schon bald zerstritten sich die Mudschahidin und kam es zu Konflikten zwischen der Regierung in Kabul und rebellierenden Milizen im Süden des Landes. Kabul konnte sich, trotz mehrfacher Bombardierungen, dank des damaligen Verteidigungsministers Ahmad Schah Massoud – dieser Mann, selbst Tadschike und tiefgläubiger, jedoch die extremen Strömungen wie die saudischen Wahhabiten ablehnender Sunnit, wird heute noch als Nationalheld verehrt –, halten.

Entscheidende Rolle spielte in diesem Konflikt Pakistan, welches Interesse daran hatte, seinen Einfluss bis Zentralasien auszuweiten. Deshalb unterstütze es verschiedene rebellierende Paschtunenmilizen – die Durand-Linie war ohnehin kaum bewacht, sodass die vom pakistanischen Geheimdienst ausgebildeten Milizenführer ohne weiteres die Grenze passieren konnten; ein Umstand, der den USA später ordentlich zu schaffen machen würde –, unter ihnen auch die 1994 erstmals im internationalen Bewusstsein auftretenden Taliban.

1996 gelang es den Taliban mit der Hilfe Pakistans – ein Großteil der Kämpfer waren keine „Afghanen“, sondern Pakistanis –, Kabul das erste Mal einzunehmen. Sie riefen daraufhin das „Islamische Emirat Afghanistan“ aus. Einzig allein Massoud konnte sich gegen die Taliban behaupten. Diese setzten ihr islamisches Gesetz derweil mit brutalsten Mitteln durch; Massaker an Zivilisten waren nicht unüblich, und über eine Millionen Menschen flohen in die Gebiete Massouds.

2001 wurde zum weiteren Schicksalsjahr in Afghanistan: Am 9. September wurde Massoud von al-Qaida-Terroristen ermordet, gerade mal zwei Tage später ereigneten sich die Anschläge in New York (An die Verschwörungsenthusiasten unter euch: Zufall?). Im Oktober begann die Invasion Afghanistans durch die USA. Die Amerikaner konnten die Taliban zwar weitgehend zurückdrängen, jedoch nie komplett besiegen. Die Islamisten blieben, auch dank der Pakistanis, die mit den Amerikanern ein doppeltes Spiel trieben – offiziell sind sie ja Verbündete der USA –, immer ein Stachel im Fleische des US-Imperiums.

Damit wären wir an dem Punkt, an dem wir heute stehen: Die USA sind nun die dritte Großmacht, die an Afghanistan gescheitert ist und sich von irgendwelchen paschtunischen Stammesfürsten demütigen lassen musste. Fragt sich, wer es als nächster versuchen möchte. China vielleicht?

Fridericus Vesargo

Aufgewachsen in der heilen Welt der ostdeutschen Provinz, studiert Vesargo jetzt irgendwas mit Musik in einer der schönsten und kulturträchtigsten Städte des zu Asche verfallenen Reiches. Da er als Bewahrer einer traditionsreichen, aber in der Moderne brotlos gewordenen Kunst am finanziellen Hungertuch nagen muss, sieht er sich gezwungen, jede Woche Texte für die Ausbeuter von der Krautzone zu schreiben. Immerhin bleiben ihm noch die Liebesgrüße linker Mitstudenten erspart…

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