Von Jan Nolte
In den vergangenen Jahren hat die politische Rechte die Europäische Union aus vielen guten Gründen kritisiert. Das Bürokratiemonster in Brüssel versucht die über Jahrhunderte gewachsenen europäischen Völker in einem Quasistaat zu verschmelzen und immer mehr Lebensbereiche seiner Mitglieder zentral zu regeln. Das Ergebnis ist dann logischerweise undemokratisch, weil derart vielfältige Entscheidungen gar nicht sinnvoll diskutiert werden können, ineffizient, weil trotzdem viel zu viel zerredet wird und die Interessen von 27 Mitgliedsstaaten ausgeglichen werden müssen. Und es sorgt für Frust, weil viele Menschen ihre Souveränität nur ungern an ein solches System abgeben.
Dass die EU zu viel will und es mit der europäischen Integration übertreibt, führt dann im Rückschluss zu einer Schwächung der EU, da so einflussreiche Staaten wie Großbritannien austreten und auch in Deutschland der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit wächst. Dabei sollte gerade die politische Rechte ein Interesse an einem starken Europa haben: Ein möglichst souveränes Deutschland ist ohne ein starkes, europäisches Bündnis nicht zu haben. Wollen wir mehr als die Verfügungsmasse irgendeiner momentanen oder künftigen Großmacht sein, führt kein Weg an einer europäischen Politik vorbei.
Deutschland könnte in einem solchen Bündnis gemeinsam mit Ländern wie Frankreich und Großbritannien leicht ein zentraler Impulsgeber sein. Bei strategischer Autonomie denke ich übrigens vor allem an Verteidigung und alle Bereiche, etwa Energie- und Nahrungsmittelversorgung, die damit zusammenhängen. Anders als manch anderer Politiker, halte ich eine noch stärkere europäische Integration als bisher für ein solches Bündnis allerdings nicht für zweckmäßig, sondern für kontraproduktiv. Ich denke an ein Bündnis nach dem Vorbild der NATO, das sich auf die Regelung wichtiger Bereiche beschränkt und seine Mitglieder ansonsten in Ruhe lässt.
Dass wir seit mehr als 70 Jahren auf ein Verteidigungsbündnis angewiesen sind, das im Grunde ein geopolitisches Instrument der USA ist, deren Interessen den unseren oft entgegenstehen, ist auf Dauer kein wünschenswerter Zustand. Europa wird verteidigungspolitisch aus gutem Grunde nicht ernst genommen. Wir müssen endlich handlungsfähig werden!
Natürlich ist das ein langfristiges Ziel und eine substantielle Verbesserung in diesem Bereich dürfte Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Aber am Anfang steht der politische Wille und den muss Deutschland formulieren. Dazu kommt noch ein weiteres Argument: In der heutigen geopolitischen Lage bedeutet strategische Autonomie übrigens auch die glaubhafte Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung und damit zur Zweitschlagfähigkeit. Mehr Verantwortung für unsere und die europäische Sicherheit zu übernehmen und in einem europäischen Verteidigungsbündnis ernst genommen zu werden, müsste daher auch bedeuten, dass Deutschland nicht länger anbietet, seine Piloten auf eine Selbstmordmission zu schicken, um die Atomwaffen anderer Staaten ins Ziel zu bringen. Auch wenn das Thema Nuklearwaffen in der Öffentlichkeit verpönt ist: Nur so gelingt glaubhafte Abschreckung.
Atomwaffen sind Lebensversicherungen: Selbst wenn ein potenzieller Aggressor deutlich stärkere konventionelle Streitkräfte auf seiner Seite hätte, würde er von einem Angriff abgehalten werden.
Jetzt aus der NATO auszutreten, wie mancher es fordert, halte ich für keine strategisch sinnvolle Option. Auch wenn man zurecht vieles an der NATO kritisieren kann, ist sie nun mal faktisch unser Verteidigungsbündnis. Ohne können wir Deutschland nicht wirksam schützen. Richtig ist natürlich auch, dass der Missbrauch der NATO als geopolitisches Instrument selbst viele Sicherheitsprobleme und Konflikte verursacht, in die Deutschland sonst niemals verwickelt wäre. Doch die Vorteile der Einbindung in die wohl noch immer mächtigste Allianz der Welt überwiegen.
Doch warum sollte man davon ausgehen, dass Europa sich für alle Zeiten nur durch die NATO schützt? Die Geschichte zeigt, dass kein Verteidigungsbündnis ewig bleibt und gibt keinen Grund davon auszugehen, dass die NATO auf ewig der einzig denkbare Weg ist, uns zu schützen. Die Zeiten ändern sich rasant und diese Veränderungen müssen wir aktiv mitgestalten. Die NATO wurde als Bündnis gegen einen Feind gegründet, den es so gar nicht mehr gibt. Vielleicht wären ja in Zukunft nicht mehr die einzelnen europäischen Staaten, sondern ein europäisches Verteidigungsbündnis mit einer starken Stimme Mitglied der NATO. Und möglicherweise können wir uns irgendwann dann auch ohne die NATO schützen.
Den Ruf nach strategischer Autonomie Europas kommt nicht nur vonseiten der politischen Rechten. Zahlreiche andere politische Lager berühren das Thema und schlagen die unterschiedlichsten Lösungsansätze vor. Also wie könnte sich ein patriotischer Ansatz von von anderen politischen Kräfte abgrenzen?
Die Antwort ist für viele schmerzhaft, aber simpel: Wir dürfen nicht auf die EU setzen, was zwei Gründe hat:. Erstens, verzichtete man auf Unterstützung Großbritanniens, neben Frankreich das militärisch mächtigste Land Europas. Zweitens, ist die EU aufgrund ihrer zahlreichen Konstruktionsfehlern geo- und sicherheitspolitisch nahezu handlungsunfähig. Ein potenzielles Verteidigungsbündnis sollte sich auf die wesentlichen Punkte beschränken und ansonsten nicht in die Angelegenheiten seiner Mitglieder hineinregieren. Das Credo sollte lauten: Gemeinsame Verteidigungspolitik und autonome Innenpolitik.
Ein interessanter Ansatz stammt in dieser Hinsicht von dedr SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik): Eine Umgestaltung des Europäischen Sicherheitsrates nach dem Vorbild des UN-Sicherheitsrates. Ständige Mitglieder wären beispielsweise die militärisch schlagkräftigeren Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien und Polen. Diese würden durch sechs rotierende, nichtständige Mitglieder ergänzt. Gleichzeitig müsste einem solchen neuen „Bündnis“ starke Schranken auferlegt werden, sodass seine Macht darauf beschränkt bleibt, lediglich die vitalen Interessen seiner Mitglieder zu schützen. Dazu gehört die Absicherung und Unterstützung ungestörter, wirtschaftlicher Tätigkeit zum Wohle Europas. Nicht dazu gehört allerdings Werteimperialismus aller Art.
Dies alles zu schaffen, ist eine Mammutaufgabe. Aber Europa kann sich ihr stellen, wenn der Prozess einmal angestoßen und die Zeichen der Zeit erkannt wurden. Diese pro-europäische Verteidigungsvision ist nicht nur aus strategischen Gründen essentiell, sondern zugleich ein gestaltender Ansatz – der in Zeiten, in denen man von der politischen Rechten oft nur Destruktives hört, besonders wichtig ist.