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Geschichtspolitik

25. Juni 2021
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Die erste Phase des Zweiten Weltkrieges klingt im Mainstream ungefähr so: 1939 überfiel Hitlerdeutschland Polen und nahm damit leichtfertig die Kriegserklärung Frankreichs und Englands in Kauf. 1940 besetzte die Wehrmacht erst Dänemark und Norwegen, um dann anschließend in wenigen Wochen Frankreich zu unterwerfen, während die verdutzten Engländer ihre Armee gerade noch auf ihre Heimatinsel zurückziehen konnten. Im Sommer 1941 beherrschten Hitlers Legionen fast ganz Europa.

Doch der Diktator hatte immer noch nicht genug. Am 22. Juni 1941 überschritt die Wehrmacht mit ihren Verbündeten die Grenze zur Sowjetunion. Es begann ein Vernichtungskrieg, der in seiner Barbarei und Rücksichtslosigkeit noch 80 Jahre nach Beginn sprachlos macht.

Ideologien des Angriffs

Ich möchte an dieser Stelle eines klarstellen: Es geht mir nicht darum die Verbrechen der einen Seite klein- und die der anderen Seite großzuschreiben. Es geht mir nicht darum einem eindeutigen Vernichtungsfeldzug seinen Vernichtungscharakter abzusprechen. Ich möchte aber auch nicht eine Erzählung unkommentiert stehen lassen, die sich mittlerweile zwischen dem deutschen Bundespräsidenten Steinmeier, dem russischen Präsidenten Putin und dem AFD-Politiker Gauland aufspannt – eine Erzählung, die meine Vorfahren, und damit auch mich, zu Statisten einer Geschichte werden lässt, die nur noch kriegsgeile Nazis und friedliebende Sowjets kennt.

Die Sowjetunion und das Dritte Reich ähnelten sich in vielerlei Hinsicht. In beiden Systemen formierte die politische Führung ihre Bevölkerung entlang einer materialistischen Ideologie, in der der Einzelne nichts, das Kollektiv hingegen alles war. Beide Systeme nahmen von Beginn ihres Bestehens an die Vernichtung von Menschenleben gleichgültig in Kauf. Wer nicht spurte, wer nicht ins Bild passte, der wurde ausgemerzt.

Beide litten schwer unter dem Erbe des verlorenen Ersten Weltkrieges und des auseinandergebrochenen Europas. Die Nationalsozialisten erlangten erst 16 Jahre nach den Sowjetsozialisten die Macht über “ihr“ Land und “ihr“ Volk. In dieser Zeit hatte sich im Osten bereits viel getan. Tradierte Strukturen, die der Sowjetideologie im Weg standen, waren während dieser Zeit gründlich beseitigt worden.

Beide Systeme ähnelten sich sehr, was sich unter anderem in ihren unkonventionellen Lösungsansätzen für komplexe Problemstellungen zeigte – etwa bei der Frage, wie der Krieg der Zukunft geführt werden könnte. Das Gespenst des Stellungskrieges, da waren sich sowjetische wie deutsche Militärplaner einig, ließ sich nur mit dem Willen zur Bewegung überwinden. Schnelle Panzerverbände, die unterstützt von aggressiven Luftstreitkräften in die Tiefe des feindlichen Raums stoßen – das war die Zukunft. Die Ideologie beider Systeme war in militärischer Hinsicht ganz und gar dem Primat des Angriffs verschrieben.

Prävention oder Überfall?

Die Frage, die im letzten Jahrhundert, vor allem während der 1990er viel Staub aufwirbelte, lautet: Kamen die Nationalsozialisten den Sowjetsozialisten zuvor, als sie im Juni 1941 angriffen? Handelten sie also präventiv und wenn ja, geschah das bewusst oder unbewusst?

Die Gegner der Präventivkriegsthese werden nicht müde auf Hitlers Eroberungspläne in dessem Buch „Mein Kampf“ zu verweisen. Wenn der Diktator schon 1925 von der Niederwerfung des Bolschewismus träumte, wie kann ein deutscher Angriff 16 Jahre später dann noch präventiv sein?

Dass die Sowjetunion unmittelbar nach ihrer Konstituierung die Weltrevolution anstrebte, dass in den Jahren darauf viele osteuropäische Länder gewaltsame Umstürze erlebten, dass die Rote Armee 1920 vor den Toren Warschaus stand – all das scheint nicht zu zählen. Nein, Stalins Reich betritt in der populären Erzählung, die ich diesem Artikel plakativ vorangestellt habe, erst in dem Moment die Bühne, als Hitlers Panzer in Richtung Osten walzen.

Stalin wusste, dass Hitler Lebensraum im Osten erobern wollte. Er wusste, dass es Krieg geben würde. Er war in den Monaten und Wochen vor dem konkreten deutschen Angriff sogar so weit vorgewarnt, dass am Tag vor dem Angriff die Truppen an der Grenze in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Aber all das zählt nicht. Stalin bleibt für die Geschichtsforschung ein weißer Fleck, seine Passivität während der ersten Wochen nach dem deutschen Angriff bleibt auch weiterhin ein Mysterium.

Ungleiche Maßstäbe und offene Fragen

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt, dessen Bekanntgabe im August 1939 die westlichen Mächte völlig überrumpelte, zeigte die nationalsozialistische und sowjetische Führung dem Rest der Welt, dass sich selbst ideologische Todfeinde aus pragmatischen Gründen das Bett teilen können – zumindest für eine Zeit. Die Frage, weshalb Frankreich und England dem Dritten Reich nach seinem Einmarsch in Polen den Krieg erklärten, aber nicht der Sowjetunion, bleibt berechtigt, aber unbeantwortet.

Ähnlich ungleiche Maßstäbe werden auch bei der Bewertung des Winterkriegs angelegt: Nachdem Finnland sich den Gebietsforderungen der Sowjetunion verweigerte, griff die Rote Armee im Winter 1940 an und bezwang erst im Frühjahr darauf und unter hohen Verlusten die hartnäckigen Verteidiger. Frankreich und England sicherten den bedrängten Finnen Hilfe zu, die Finnen blieben aber, bis auf einige Waffenlieferungen, auf sich allein gestellt. Die sowjetische Aggression blieb, wie bereits bei der Zerschlagung Polens und der Annexion Estlands, Lettlands, Litauens und später Bessarabiens, ungestraft.

Der Vernichtungswille der sowjetischen Führung in den annektierten Gebieten unterschied sich kaum von den Verbrechen des Naziregimes. Einträglich betrieben beide Diktaturen eine Umvolkungspolitik, schoben sich gegenseitig Menschenkontingente zu und wo es eben sein musste, deportierte die Sowjetunion Millionen Einwohner wie Vieh aus ihrer angestammten Heimat in sibirische Konzentrationslager, welche stets allgemein und lapidar als „Arbeitslager“ bezeichnet werden.

In den Wäldern von Katyn und an anderen Orten erschossen Angehörige des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) rund 25.000 polnische Offiziere, Intellektuelle und Führungspersönlichkeiten. Das geschah im Frühling 1940. Das polnische Volk sollte mit diesem Schlag enthauptet werden. Dieses Verbrechen wurde gründlich geplant, bürokratisch korrekt ausgeführt und nicht zufällig nutzten die Mörder deutsche Waffen und Munition. Sie hatten ihre Gründe.

Ein Tag im Juni

Als am 22. Juni 1941 die Wehrmacht mit ihren Verbündeten zum Angriff auf die Sowjetunion ansetzte, traf sie auf einen Gegner, der an seiner Grenze eine Armee zusammengezogen hatte, die in ihrer Größe die des Angreifers bei weitem übertraf. In wenigen – aber entscheidenden – Bereichen hatte die Rote Armee auch einen qualitativen Vorsprung, mit dem die Wehrmacht nicht gerechnet hatte.

Hitler und viele seiner Militärs waren bis dahin von einem schnellen Sieg ausgegangen, denn die Rote Armee hatte sich im Winterkrieg nicht von ihrer besten Seite gezeigt. Stalins Wahn waren Ende der 1930er tausende Offiziere zum Opfer gefallen. Das klingt so abgeschmackt, konkret heißt das: Der NKWD erschoss oder deportierte fast das gesamte Führungspersonal der Roten Armee. An ihrer Stelle standen nun vielfach unfähige Bücklinge, die ihre Männer in den sicheren Tod führen sollten.

Verfechter der Präventivkriegsthese verweisen auf die offensive Aufstellung und Doktrin der Roten Armee, auf Dokumente, Zitate und Pläne. Gegner der Präventivkriegsthese halten das alles für widerlegt, die vorgezeigten Quellen für Fälschungen, die Zitate für verdreht und die grenznahe Aufstellung der sowjetischen Truppen für einen Ausdruck „offensiver Verteidigung“.

Viele Fragen bleiben weiterhin offen und werden in absehbarer Zeit und unter dem vorherrschenden Klima nicht beantwortet werden können. Das liegt nicht nur an der teils widersprüchlichen, teils zweifelhaften Quellenlage. Mit so etwas müssen Historiker umgehen können. Nein, der Grund ist ein anderer.

Das war eben so. Basta!

Der Grund dafür ist der zunehmend schizophrene Umgang mit hochkomplexen Ereignissen, die von Politikern nicht im Ansatz begriffen, sondern von ihnen nur noch zur moralischen Unterfütterung ihrer politischen Agenda zurechtgerupft werden.

Die Zeit veröffentlichte etwa eine Einsendung Putins. Man liest dort Absätze wie diesen: „Wir sind stolz auf den Mut und die Standhaftigkeit der Helden der Roten Armee und der Arbeiter daheim, die nicht nur die Unabhängigkeit und Würde ihres Vaterlandes verteidigten, sondern auch Europa und die ganze Welt vor der Versklavung retteten.“

Man versteht Putins Intention, er schreibt das immerhin als russischer Präsident. Aber man kann dem einfach nicht zustimmen. Nicht als Pole. Nicht als Ukrainer. Auch nicht als Deutscher. Der Sowjetsozialismus mündete in der Versklavung all jener osteuropäischen Länder, aus denen er zuvor das nationalsozialistische Regime geworfen hatte. Terror folgte auf Terror. Darin liegt die Tragik der osteuropäischen Völker.

Dagegen klingt der Absatz aus der Rede Steinmeiers erst einmal versöhnlich: „Wenn der Blick zurück auf eine einzige, nationale Perspektive verengt wird, wenn der Austausch über unterschiedliche Perspektiven der Erinnerung zum Erliegen kommt oder er verweigert wird, dann wird Geschichtsschreibung zum Instrument neuer Konflikte, zum Gegenstand neuer Ressentiments. Und deshalb bleibt meine Überzeugung: Geschichte darf nicht zur Waffe werden!“

Leider spricht der Mann, wie so oft, mit gespaltener Zunge. Denn auch Deutschland hat seine von oben diktierte Version der Geschichte, an der Steinmeier fleißig mitschreibt. In dieser Geschichte ist kein Platz für unsere Großväter, die mitmarschierten, mitkämpften, mitstarben, weil sie das eben mussten. In dieser Version gibt es nur Täter, das sind wir, und Opfer, das sind immer nur die anderen. Und so wird dann auch bei Steinmeier aus der Roten Armee ein sogenannter Befreier:

„Wir sind hier, um an den ungeheuren Beitrag der Frauen und Männer zu erinnern, die in den Reihen der Roten Armee gegen Nazideutschland gekämpft haben. Wir blicken auf ihren Mut und ihre Entschlossenheit; auf die Millionen, die gemeinsam mit den amerikanischen, britischen und französischen Alliierten und vielen anderen ihr Leben eingesetzt und viele von ihnen verloren haben, für die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Alternative? Welche Alternative?

Als rechter Oppositionspolitiker hat man an einem Tag, an dem sich ein so ambivalentes Ereignis jährt, mehrere Optionen in der Hand. Man kann einfach gar nichts – und damit eben auch nichts falsches – sagen. Überhaupt, an wen adressiert man denn seine Sicht der Dinge? An die eigenen Wähler? An die Medien? An das Volk? Wer hört zu und sagt: “Klasse, endlich sagt das mal jemand“?

Man könnte sich äußern, um etwa auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Erinnerung an die Opfer aufmerksam machen. Man könnte über Schütze Hans und Schütze Iwan sprechen, über zwei ganz normale Männer, die von ihren jeweiligen Regimen gegeneinander aufgehetzt und in den Krieg getrieben wurden.

Man könnte die Notwendigkeit von Erinnerungskultur betonen, von Schüleraustauschprogrammen, von gemeinsamen Projekten der Kriegsgräberfürsorge. Das alles gibt es ja und hier findet jenseits des politischen Palavers die echte Versöhnung und der echte Austausch statt.

Was wollte Gauland also bezwecken, als er mit seiner Rede im Bundestag folgendes in den Raum stellte: ”Wenn der Überfall und der Krieg auch kaum eine unterschiedliche Bewertung erfahren, so bleibt die Frage: Hätte man es verhindern können? Wir Deutschen können Sie wegen eigener tiefer Schuld nicht stellen.”

Aber im Westen ist sie gestellt worden. Hat die Sowjetunion nicht, so der Vorwurf, durch den Molotow-Ribbetropp-Pakt eine Mitschuld an der Katastrophe, die sie getroffen hat? Wir wissen, dass Stalin zwei Optionen hatte: Das Bündnis mit dem Westen oder einen kurzfristigen Aufschub durch den Teufelspakt mit Hitler – und es gibt nicht wenige Historiker, die diesen Teufelspakt für unverzeihlich und einen schweren Fehler halten. Realistisch und gerecht ist diese Kritik nicht.

Denn die langwierigen Verhandlungen über eine Militärkonvention zwischen der Sowjetunion, dem Empire und Frankreich führten immer wieder zu demselben toten Punkt: Wie sollte eine Verteidigung organisiert werden ohne ein Polen, das keine sowjetischen Truppen auf seinem Territorium dulden wollte?”

Fassen wir zusammen:

  • Wir sind schuld.

  • Wir stellen keine Fragen.

  • Stalin did nothing wrong.

Politik auf dem Rücken unserer Geschichte

Zwei deutsche Politiker, die unterschiedlicher nicht sein können, unterwerfen sich also bereitwillig einem völlig einseitigen Narrativ. Der Bundespräsident tut das, weil er sich in seiner pastoralen Schwafelrolle so gut gefällt. Er würde seinem Volk doch jede Untat andichten, so lange er sich moralisch überlegen fühlen darf.

Der Oppositionspolitiker glaubt hingegen, dass man in Moskau jetzt das Glas auf seine Partei erhebt. Er, der noch vor einiger Zeit in einem Anflug aus Landserheftchenromantik forderte, dass man Stolz auf die Leistung der deutschen Armee in beiden Weltkriegen sein müsse.

Tage wie der 22. Juni sollten der Politik entrissen werden. Man kann Politiker nicht daran hindern Reden zu schwingen, aber vielleicht lässt man an solchen Tagen die Nachrichten einfach ausgeschaltet. Man nutzt besser die Zeit um sich selbst zu fragen, was man über solche gewaltigen Ereignisse, wie das Unternehmen Barbarossa, eigentlich weiß. Gab es Familienangehörige, die d
abei waren? Haben sie etwas darüber erzählt oder geschrieben? Was ist damals überhaupt passiert? Fragen, also. Fragen, die beantwortet werden wollen.

Friedrich Fechter

Nachdem sich Fechter von den beiden Chefs die Leitung der Netzredaktion hat aufquatschen lassen, musste er mit Enttäuschung feststellen, dass die Zeiten von Olymp-Schreibmaschinen und reizenden Vorzimmerdamen vorbei sind. Eine Schreibmaschine hat er sich vom hart erarbeiteten Gehalt trotzdem gekauft. Und einen antiken Schreibtisch. Auf irgendwas muss man im Hausbüro schließlich einprügeln können, wenn die faulen Kolumnisten wieder ihre Abgabefristen versemmeln…

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