Iran – Welche Haltung ist die am wenigsten schlechte?

29. September 2022
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Seit fast zwei Wochen toben im Iran Proteste. Den Grund dafür dürften bestimmt so gut wie alle Leser der KRAUTZONE schon mitbekommen haben, aber trotzdem fasse ich die dortige Lage noch einmal kurz zusammen: Am 13. September war die 22-jährige Mahsa Amini zu Besuch bei Verwandten in der iranischen Hauptstadt Teheran. Sie wurde aufgrund eines falsch sitzenden Hidschabs – in der iranischen Theokratie herrscht Verhüllungspflicht für Frauen – von der Sittenpolizei aufgegriffen und verhaftet. Während und nach der Verhaftung soll sie derart schwer körperlich misshandelt worden sein, dass sie ins Koma fiel und auf eine Intensivstation gebracht wurde. Drei Tage später, am 16. September, verstarb sie.

Daraufhin ging es los: Zuerst in Teheran, dann in Kurdistan, der Heimatprovinz Aminis, und schließlich in allen größeren Städten brachen Proteste aus. Vor allem richten sie sich gegen die iranische Kleiderordnung und das gewaltsame Vorgehen iranischer Sicherheitskräfte: Frauen nehmen ihr Kopftuch ab, verbrennen den Hidschab öffentlich auf Scheiterhaufen oder schneiden sich die Haare ab. Der Präsident des Iran, Ebrahim Raisi, ließ infolgedessen sämtliche sozialen Netzwerke wie WhatsApp oder Instagram sowie den größten Mobilfunkprovider des Landes abschalten. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei sind – Stand 26. September – schon über 1.200 Menschen festgenommen, über 800 verletzt und circa 40 bis 70 getötet worden.

Im Westen reagierte die Mainstreampresse recht einstimmig: Alle verurteilten den Umgang der Sittenpolizei mit Amini, zeigten sich geschockt von der Brutalität und unterstützen die Proteste; sie hoffen auf den Umsturz und die Befreiung der iranischen Frau von der patriarchalen, islamischen Theokratie, die seit der Revolution im Jahre 1979 dort herrscht. Das Übliche eben. Was dennoch eine interessante Beobachtung ist, ist die Islam-Apologetik, insbesondere bei linksradikalen – also „woken“ – Outlets. Gewiss, auch das ist nichts Neues unter der Sonne – die Islam-Apologeten im Mainstream sind schließlich seit sieben Jahren des Kollegen Finkelsteins Brot. Aber selbst in diesem Falle, wo es so offensichtlich ist, woher der Wind weht, sagen sie immer noch: „Du kannst sowohl für das Kopftuch in Europa als auch gegen den Hidschab im Iran sein!“ Wer sich gleichzeitig für die Proteste im Iran und für das Kopftuchverbot in europäischen Ländern einsetze, wie es manche AfD-Politiker (voreilig) tun, dem gehe es nur um seine eigene Ideologie und nicht um die Freiheit und Selbstbestimmung der Frau. Tja, schuldig im Sinne der Anklage: Ich will den Islam nicht in Europa haben, Überraschung. Und was die Proteste im Iran betrifft?

Nun, da bin ich zwiegespalten, ähnlich wie im Ukraine-Fall: Auf der einen Seite mag ich die Mullahs genauso wenig, wie ich Putin mag (also gar nicht), auf der anderen Seite möchte ich nicht, dass der Iran ein weiterer Außenposten des politischen Westens und damit des US-Hegemons wird. Zumal die Protestler häufig nicht auf „unserer“ Seite sind: Sie handeln aus feministischen, also linken Motiven. Damit sind sie nicht meine Freunde, warum sollte ich sie unterstützen? Bei aller möglichen Sympathie für die Demonstranten sollte man sich auf dieses Kalkül einlassen. Und es ist ja nicht nur das: Man scheint im Iran einige westliche Narrative zu übernehmen. Man sehe sich dafür nur Fotos von den Protesten an: So gut wie alle tragen Masken. Zwar war die Corona-Sache Anfang 2020 ziemlich stark im Iran, aber man scheint so zu tun, als ob Masken in einer solchen Situation – im Angesicht bewaffneter Männer, die notfalls auf einen schießen würden – notwendig wären. Vielleicht sind sie das ja auch und sollen die Unterwürfigkeit für eine neue Ideologie repräsentieren? Wer weiß.



Und dann kommt noch die geopolitische Komponente ins Spiel. Der größte Verbündete des Irans ist, na? Russland. Umgekehrt ist der Iran neben Syrien einer der wichtigsten Alliierten Russlands im Nahen und Mittleren Osten; seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs hat der Iran an der Seite Russlands die Regierungstruppen Assads unterstützt. Und jetzt, wo die westliche Welt sich gegen Russland und „Putler“ rüstet, wird einer seiner größten Verbündeten von innen heraus destabilisiert. Als wäre das nicht genug, greift Aserbaidschan – Alliierter der Türkei und mittlerweile ein wichtiger Öl- und Gaslieferant der Bundesrepublik – Armenien an, welches ein – richtig erraten – russischer Freund zwischen Kaukasus und Anatolien ist. Ich bin nicht bereit, hier an einen Zufall zu glauben – ob es sich um eine bewusste Schwächung eines antiamerikanischen Blocks in Osteuropa und Vorderasien handelt? Tja, um das endgültig zu klären, werden noch Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte verstreichen müssen. Plausibel klingt es allemal, schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass sich die Vereinigten Staaten in die inneren Angelegenheiten ihrer Feinde einmischen.

Seit 43 Jahren besteht nun die „Islamische Republik Iran“. Scheint nun ihr Ende nahe? Was würde das bedeuten? In Anbetracht der dortigen Demonstranten würde der Sturz der Mullahs eine Verwestlichung des Landes nach sich ziehen, und zwar im schlechtesten Sinne des Wortes: Der Linksliberalismus würde Einzug halten. Die Konsequenzen dessen brauche ich wohl nicht zum tausendsten Mal ausführen. Der Iran wäre damit eine weitere Provinz des Westens. Eine alternative Lösung wäre auch kaum realistisch: Entweder Barbaren-Islam oder McDonald’s. Man könnte über die Reinthronisierung des Schahs und eine Rückbesinnung der Perser auf ihre vorislamischen Wurzeln – also den Zoroastrismus – nachdenken, doch wie wahrscheinlich wäre das? Und somit bleibt uns nur das Dilemma zwischen Hidschab und Pornografie, zwischen islamischen Revolutionsgarden und Black Lives Matter, zwischen Schahada und Antirassismus: Wenn der Umsturz gelingen sollte und der Iran westlich würde, so würden die Iraner innerhalb von 50 Jahren zwei Revolutionen völlig umsonst begangen haben.

Fridericus Vesargo

Aufgewachsen in der heilen Welt der ostdeutschen Provinz, studiert Vesargo jetzt irgendwas mit Musik in einer der schönsten und kulturträchtigsten Städte des zu Asche verfallenen Reiches. Da er als Bewahrer einer traditionsreichen, aber in der Moderne brotlos gewordenen Kunst am finanziellen Hungertuch nagen muss, sieht er sich gezwungen, jede Woche Texte für die Ausbeuter von der Krautzone zu schreiben. Immerhin bleiben ihm noch die Liebesgrüße linker Mitstudenten erspart…

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