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Konflikt um Taiwan – Die „Schneerote“ und der Professor (Teil 2)

31. Oktober 2021
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Als sich auf Taiwan am 5. April 1975 die Nachricht verbreitete, Tschiang Kai-schek, der von Maos Truppen 1949 ins Exil getriebene Staatspräsident der Republik China, sei im Alter von 88 Jahren gestorben, war die Reaktion gespalten: Während die rund zwei Millionen Festlandchinesen, die zusammen mit dem Generalissimus vor den siegreichen Kommunisten geflüchtet waren, Trauer und Bestürzung empfanden, atmete die Mehrheit der Einheimischen auf.
Seit drei Jahrzehnten hatten sie unter dem Regime der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) gelitten und vergeblich versucht, das als brutale Besatzung empfundene Joch abzuschütteln. Weitere vier Jahrzehnte indes sollte es dauern, bis jene Taiwanesen, die sich weder der Republik China noch der kommunistischen Volksrepublik verpflichtet fühlen, ihrem Ziel näherkamen, das sie insgeheim oder offen anstreben: der Unabhängigkeit ihrer Insel.

Die Gründung Taiwans

Doch wer sind „die“ Taiwanesen? Abgesehen von den Urahnen einstiger austronesischer Völker, sind die meisten Einwohner Nachkommen von Auswanderern aus Südchina, die sich im Verlauf von Jahrhunderten auf dem Eiland angesiedelt hatten. Ihnen stehen die erwähnten Festländer gegenüber, die zwischen 1945 und 1949 die damalige Provinz der Republik China zu ihrem neuen Domizil machten – heute stellen sie mit 2,5 Millionen etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung.

Die kleine Insel am Wendekreis des Krebses, 200 Kilometer vom Festland entfernt, hat eine wechselvolle Geschichte von Eroberungen und Revolten gegen Kolonialmächte hinter sich. Die „Ilha formosa“, die schöne Insel, wie portugiesische Seefahrer 1583 das chinesische „Taiwan“, die sich aus dem Meer erhebende Terrasse, tauften, wurde 1624 von den Holländern erobert. Zwei Jahre später kamen die Spanier. Den Niederländern gelang es jedoch 1641, die spanischen Eroberer wieder zu vertreiben.

Mitte des 17. Jahrhunderts schlug Koxinga, ein Kriegsherr chinesisch-japanischer Abstammung, die Holländer in die Flucht. 1683 wurde die Insel von der mandschurischen Qing-Dynastie (1644-1911) annektiert und 1885 dem Kaiserreich als eine seiner Provinzen endgültig eingegliedert. Schon zehn Jahre später jedoch mußte der Drachenthron nach der Niederlage im Krieg gegen Japan Taiwan an Tokio abtreten. Daraufhin erklärten die Inselbewohner ihre Unabhängigkeit und riefen die Demokratische Republik Formosa aus – sie gilt als die erste Republik Asiens.

Getrennte Wege

Dieser Versuch, sich von kolonialer Bevormundung zu befreien, wurde von der japanischen Expeditionsarmee rasch erstickt – Taiwan geriet für fünfzig Jahre unter die Herrschaft Tokios. In zahlreichen Aufständen versuchten Taiwanesen, die durch lange Trennung vom Festland ein eigenes Nationalbewußtsein entwickelt hatten, die Freiheit zu erkämpfen. Eine der stärksten Widerstandsorganisationen war damals die Tai-Kiong, die Kommunistische Partei Taiwans, unter der Führung von Tschia ( auch: Xie) Si-ang, genannt die Schneerote.

1945, nach der Kapitulation Japans, sprachen die Alliierten Taiwan wieder der Republik China als der legitimen Nachfolgerin des Kaiserreichs zu, das 1911 abgedankt hatte. Die Taiwanesen, die nun unter die diktatorische Herrschaft des nationalchinesischen Gouverneurs Tschen Yi gerieten, organisierten erneut den Widerstand. Was mit Schlägen gegen eine Frau begann, die unverzollte Zigaretten verkaufte, eskalierte 1947 zu inselweiten Protesten gegen das in Nanking residierende KMT-Regime. Die Aufständischen gründeten ein Revolutionskomitee und stellten eine Freiwilligen-Armee auf. Tschiang Kai-schek ließ daraufhin den Ausnahmezustand verhängen und entsandte Truppen auf die Insel, die den Volksaufstand am 28. Februar brutal niederschlugen. Bis heute gedenken Tausende jedes Jahr des 228-Massakers, das nach Schätzungen 20.000 bis 30.000 Todesopfer forderte.

Die „Schneerote“, die entscheidenden Anteil an der Revolte hatte, floh 1949 nach Peking, wurde Mitglied des Zentralkomitees der KP und gründete in der Volksrepublik die „Demokratische Liga für ein Freies Taiwan“. Diese Organisation wurde 1958 aufgelöst, weil ihr nationalistischer Flügel nicht nur für ein sozialistisches, sondern zugleich für ein von China unabhängiges Taiwan eintrat. Die in die Volksrepublik geflohenen taiwanesischen Kommunisten organisierten sich statt dessen in der „Liga für die demokratische Selbstverwaltung Taiwans“.

Der Herr der Insel

Nach der Niederschlagung des Aufstands hatte Tschiang Kai-schek die Insel fest im Griff: Aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes erhielt der Generalissimus und Staatschef Sondervollmachten, die es ihm gestatteten, die Regierung umzubilden, jederzeit den Nationalen Sicherheitsrat einzuberufen und den Krieg zu erklären, ohne das Parlament zu befragen. Die gefürchtete Geheimpolizei unter Leitung seines Sohnes Tschiang Tsching-kuo tat ein Übriges. Alle Machtpositionen in Staatsapparat, Verwaltung und Armee waren in der Hand der Festländer, keinem Taiwanesen gelang der Aufstieg in höhere Ämter.

Angesichts dieses verschleierten Kolonialismus nahm es nicht wunder, daß Inselbewohner immer wieder Rufe nach Unabhängigkeit laut werden ließen. Die Versuche, sich zu organisieren, scheiterten jedoch wegen Meinungsverschiedenheiten divergierender Flügel. Im April 1964 indes trat die Bewegung in ein neues Stadium: Peng Ming-min, Professor an der Nationaluniversität von Taipeh, veröffentlichte zusammen mit zwei Assistenten die „Proklamation der Unabhängigkeit Taiwans“. Die Kernpunkte des Manifests lauteten:

„Es gibt ein China und ein Taiwan; Tschiang Kai-schek kann weder China noch Taiwan repräsentieren; Taiwan muß ein unabhängiger Staat mit demokratischer Regierung und Verfassung werden; die zu gründende Republik Taiwan soll Mitglied der UNO-Vollversammlung werden, während die Volksrepublik den Sitz im Sicherheitsrat erhält; die Republik Taiwan nimmt freundschaftliche Beziehungen zu Peking auf und erklärt feierlich, das Festland nicht zurückerobern zu wollen.“

Ein Professor steht auf

Der Professor wurde am 3. April 1965 von einem Militärgericht wegen „Landesverrats und Anstiftung zur Rebellion“ zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Assistenten erhielten Freiheitsstrafen von acht bis zehn Jahren. Wegen der explosiven Stimmung in der Bevölkerung wurden sie bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Peng Ming-min, der als Vordenker der Unabhängigkeitsbewegung gilt, verbüßte dreizehn Monate seiner Haft, dann wurde er entlassen und stand unter strenger Polizeiaufsicht.

Mit Hilfe von Freunden – manche sehen die CIA im Spiel – gelang dem Professor 1970 die Flucht nach Schweden, das ihm politisches Asyl gewährte. Von dort aus bewarb er sich bei der Universität von Michigan und erhielt trotz Protestes der Regierungen in Taipeh und Peking ein Einreisevisum für die USA. Erst am 2. November 1992, nach 22 Jahren im Exil, konnte Peng Ming-min in die Heimat zurückkehren, wo er begeistert empfangen wurde.

1923 während der japanischen Herrschaft in einer alteingesessenen Arztfamilie im ländlichen Taiwan geboren, hatte Peng in Tokio die High School besucht und während des Weltkriegs Rechts- und Politikwissenschaften studiert. Um der amerikanischen Bombardierung zu entgehen, quartierte er sich 1945 bei seinem Bruder in der Nähe von Nagasaki ein. Auf dem Weg dorthin verlor er bei einem Bombenangriff den linken Arm und wurde später Zeuge der zweiten atomaren Explosion, die Nagasaki zerstörte.

Nach seiner mit der Rückkehr aus dem Exil endenden Odyssee trat Peng Ming-min 1995 der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) bei, für die er 1996 bei der ersten freien Präsidentschaftswahl kandidierte. Er
erhielt 21 Prozent der Stimmen; Lee Teng-hui, der Kandidat der Kuomintang, errang indes mit 54 Prozent die absolute Mehrheit. Nach dem Tod Tschiang Tsching-kuos im Jahr 1988, der nach dem Ableben seines Vaters die Regierungsgeschäfte übernahm und den Ausnahmezustand aufhob, hatte die Kuomintang einen grundlegenden Reformkurs eingeschlagen, um einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung herbeizuführen.

Taiwan im Wandel

Diese Politik war von Erfolg gekrönt: Im Januar 2008 gewann die KMT bei der Parlamentswahl 71,7 Prozent der Sitze. Im März wurde ihr Kandidat Ma Ying-jeou zum Staatspräsidenten gewählt. Ma, der auch Parteivorsitzender war, betrieb eine Politik der Annäherung an die Volksrepublik. Bereits im „Konsens von 1992″ hatten KP und KMT die Ein-China-Politik bekräftigt und alle Unabhängigkeitsbestrebungen entschieden abgelehnt. Bei den Wahlen 2012 konnte die Kuomintang trotz Verlusten ihre absolute Mehrheit mit 56,6 Prozent der Sitze behaupten; bei der gleichzeitigen Präsidentenwahl wurde Ma wiedergewählt.

In den Folgejahren jedoch sank die Popularität der KMT so stark, daß ihr Vorsitzender Eric Chu im Januar 2016 die Wahl verlor. Mit 31,04 Prozent der Stimmen mußte er sich Tsai Ing-wen, der Kandidatin der Demokratischen Fortschrittspartei, geschlagen geben, die 56,12 Prozent erreichte. Chu legte daraufhin den Parteivorsitz nieder. Vier Jahre später, 2020, triumphierten Tsai und ihre DPP erneut.

Der nunmehr 97jährige Peng Ming-min erinnerte die Regierung sofort an sein vor 56 Jahren veröffentlichtes Manifest und forderte sie auf, eine Konferenz zur Etablierung einer „neuen Nation“ einzuberufen. Taiwan brauche eine neue Verfassung, eine neue Staatsflagge und einen neuen Nationalfeiertag; jede Bezugnahme auf die längst untergegangene Republik China müsse beseitigt werden. Als unabhängige Republik solle Taiwan die Mitgliedschaft in der UNO beantragen.

Ungewisse Zukunft

Im Kontrast dazu sandte Xi Jinping, Staats- und Parteichef der Volksrepublik, im September 2021 ein Telegramm an Eric Chu und gratulierte ihm zur erneuten Wahl zum Vorsitzenden der Kuomintang. KP und KMT, so Xi, sollten am Konsens von 1992 festhalten und die guten Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße vorantreiben. In einem Rücktelegramm sprach Chu seinen Dank aus und plädierte für eine verstärkte Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer friedlichen Wiedervereinigung.

Im Westen, auch in Deutschland, sind viele der Meinung, eine überwältigende Mehrheit der Taiwanesen sei für die Unabhängigkeit; Pekings Forderung nach Wiedereingliederung der Insel sei absurd, da das demokratisch regierte Taiwan nie Teil der kommunistischen Volksrepublik gewesen sei. Beide Argumente stehen indes auf schwachen Füßen: Erstens haben die Wahlen seit 1996 gezeigt, daß die Taiwanesen in der Frage der Unabhängigkeit tief gespalten sind; zweitens kennt das Völkerecht nur Staaten, nicht Regierungen – seit 1683 gehört Taiwan unbestritten zu China, unter welcher Regierung auch immer.

Seit dem beim Nixon-Besuch im Februar 1972 unterzeichneten Schanghaier Communiqué hatten auch die USA daran festgehalten, daß Taiwan wie Tibet ein untrennbarer Teil Chinas ist. Allerdings verabschiedete der US-Kongreß 1979 den „Taiwan Relations Act“, der Washington erlaubt, die Insel mit defensiven Waffen zu versorgen. Unter Präsident Biden jedoch sind die USA einen entscheidenden Schritt weitergegangen. Am 21. Oktober erklärte er erstmals die Bereitschaft der USA, im Fall eines Angriffs durch die Volksrepublik Taiwan auch mit Waffengewalt zu verteidigen. „Ja, wir haben eine Verpflichtung, das zu tun“, so seine Antwort auf eine entsprechende Frage. Somit könnte der Konflikt um die Insel bald unabsehbare weltpolitische Folgen haben.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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