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Passion und Leiden in der Musik – Etwas Kulturgeschichte zur Karwoche

6. April 2023
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Es ist ähnlich wie bei Weihnachten: Wochen, nein, Monate bevor die Feiertage, deren Bedeutung die meisten eh nicht mehr kennen, überhaupt stattfinden, gibt es bereits allerlei unsinnigen Kitsch zu erwerben, der, wenn überhaupt, nur einen losen, oberflächlichen Bezug zum bevorstehenden Fest hat – was dem Fest zur Geburt Jesu Christi der Schokoladenweihnachtsmann ist, ist dem Fest seiner Auferstehung der Schokoladenosterhase. Die Adventszeit wird dabei zu einer Art „Weihnachtskonsumzeit“ entartet, während in der eigentlichen Weihnachtszeit viele Menschen davon gar nichts mehr wissen wollen – genauso verfährt man mit der Osterzeit: Nachdem alle bunten Eier eingesammelt wurden, vergisst man das Fest schnell wieder, dabei beginnt der Osterfestkreis erst mit dem Ostersonntag.

Doch wie gesagt: Noch ist kein Ostern. Wir befinden uns mitten in der Karwoche, der Leidenswoche Jesu Christi und dem Abschluss der Passionszeit, die unter Einschluss des Ostersonntags auch „Heilige Woche“ genannt wird – übrigens bedeutet „kar-“ so viel wie „Sorge“ oder „Kummer“ und ist mit dem modernen deutschen Wort „karg“ und dem englischen „care“ verwandt. Nun, ich bin kein Theologe, aber dafür, wie einige Leser wissen dürften, Musiker und Musikliebhaber. Daher möchte ich heute einen kleinen Einblick in eine Welt geben, in der die Karwoche, und insbesondere der Karfreitag, musikalisch untermalt wurde – einerseits, um Ihnen, lieber Leser, wieder etwas Bewusstsein für die Bedeutung dieser Woche zu geben, andererseits, um unser eigenes Abendland in seiner kulturellen Blüte zu feiern. Um den Einblick nicht zu lang zu machen, werde ich mich dabei auf die Passionstradition konzentrieren, mit der ich am meisten vertraut bin und die bis zum DDR-Sozialismus Bestandteil meiner Heimat war: der Passionsmusik im evangelisch-lutherischen Deutschland.

Fangen wir kurz mit der Vorgeschichte an: Schon im Spätmittelalter wurde die Messe am Karfreitag durch die vertonte Passionsgeschichte mitgestaltet, wobei die unterschiedlichen Figuren des Evangeliums jeweils unterscheidbaren Stimmlagen zugeordnet wurden: Zum Beispiel sang ein Bass den Jesus, während der Evangelist, der die Erzählerrolle übernimmt, von einer hohen Männerstimme gesungen wurde. Hinzu kamen dann sogenannte Turbae, also Chöre, die die Nebenrollen in der Leidensgeschichte Jesu übernehmen – also die Jünger, die Juden oder die Hohepriester. Die Reformatoren übernahmen anfangs einen Großteil der katholischen Karfreitagsliturgie, unter anderem auch deren musikalische Ausgestaltung.

Gerade in den lutherischen Gebieten, wo Musik zu einem nicht wegzudenkenden Bestandteil des Gottesdienstes wurde – ganz im Gegensatz zu den calvinistischen Gemeinden, die fast jegliche musikalische Gestaltung aus dem Gottesdienst verbannten –, blühte die Passionsmusik ab dem 17. Jahrhundert auf. Wichtigster Komponist in dieser Zeit war Heinrich Schütz (1585-1672), dessen Musik im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und heute noch gern aufgeführt wird: In seinen Passionen wechseln sich fast meditativ wirkende Rezitative, also sprechend vorgetragene Gesänge, mit dem Chor ab. Diese Passionen sind fast vokal, lediglich eine Bassgruppe, die zum Beispiel aus einer Orgel und einem tiefen Streichinstrument bestehen kann, begleitet die Sänger.


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Den Höhepunkt erlebt die lutherische Passionsmusik wohl im 18. Jahrhundert, zumindest meiner bescheidenen Ansicht nach. Mein erster je für die KRAUTZONE eingereichter Artikel drehte sich um jenen Mann, den ich in meiner Jugend wohl am meisten verehrt habe: Johann Sebastian Bach (1685-1750). Die großartige Musik dieses Mannes prägt mich bis heute, und seine beiden überlieferten Passionsmusiken, die Johannes- und die Matthäuspassion, bilden einen der höchsten Gipfel abendländischer Kirchenmusik überhaupt. Beide Passionen sind zwar in ihrer Qualität und Meisterschaft gleichen Ranges und haben auch dieselbe Form – beide bestehen sie aus vertonten Bibelversen, aus Arien, in denen die Figuren ihre Empfindungen ausdrücken, Chorälen, die die Gemeinde in das Geschehen einbinden, und Chören, die die Juden und Jünger darstellen –, doch unterscheiden sie sich bedeutend im Charakter.

Die Johannespassion ist distanziert und fast rational und nimmt die Auferstehung Jesu als übermenschlichen Christus Victor in ihrer Musik vorweg; die Matthäuspassion hingegen zeigt Jesus als leidenden Menschen. In kaum einem anderen Werk wird das Leiden Jesu Christi nahbarer und schmerzvoller dargestellt; man muss sich nur die süßen Geigenklagen in der Arie „Erbarme dich, mein Gott“ oder den gequälten Ausruf „Eli, Eli, lama asabthani?“ („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) des sterbenden Jesu vor Augen (oder besser: vor Ohren) führen, um die Meisterschaft Bachs zu erkennen. Die Matthäuspassion endet mit dem klagenden Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“, um dann den Zuhörer mit einem Gefühl der Niedergeschlagenheit zurückzulassen, wie er sie so nie wieder zu spüren bekommt. Ich erinnere mich an eine circa dreistündige Aufführung im Jahre 2018, an deren Ende das Publikum mehrere Minuten in Schweigen gehüllt dasaß, ehe es sich zu regen wagte – solch eine Wucht hatte dieses Werk für die Menschen.

Um zum Abschluss zu kommen: Ich hoffe, dieser kleine Exkurs in die protestantische Kirchenmusik (und in mein Steckenpferd) war nicht allzu nischenhaft. Ich wollte anhand dessen auch aufzeigen, welche kulturelle Bedeutung die Karwoche für die Menschen hatte – und wie viel davon verloren zu sein scheint. Es wird Zeit, sich auf solche Traditionen zurückzubesinnen, nicht zuletzt, um den Teufeleien der Moderne etwas Schaffendes entgegenzusetzen. Letzten Endes hat man uns Epigonen einen reichhaltigen Schatz hinterlassen, den wir kaum zu begreifen in der Lage sind. Ihn zu pflegen gilt es, solange wir können – aber ihn auch als Inspiration zu nutzen, auf dass wir eine bessere Welt schaffen mögen.  

Fridericus Vesargo

Aufgewachsen in der heilen Welt der ostdeutschen Provinz, studiert Vesargo jetzt irgendwas mit Musik in einer der schönsten und kulturträchtigsten Städte des zu Asche verfallenen Reiches. Da er als Bewahrer einer traditionsreichen, aber in der Moderne brotlos gewordenen Kunst am finanziellen Hungertuch nagen muss, sieht er sich gezwungen, jede Woche Texte für die Ausbeuter von der Krautzone zu schreiben. Immerhin bleiben ihm noch die Liebesgrüße linker Mitstudenten erspart…

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