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Sozialismus und Demokratie

18. Juni 2021
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„Sozialismus kann nur demokratisch sein. Der Kampf um Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit besteht fort. Am 17. Juni 1953 kam es in der DDR zu Massenstreiks und Massendemonstrationen aus Protest gegen Lohndrückerei und unverhältnismäßigen Leistungsdruck.“

Das schrieb der Landesverband der Linken in Sachsen-Anhalt gestern, 68 Jahre nach jenem 17. Juni 1953, auf seinem offiziellen Twitteraccount. So so. Auch wenn liberal-konservative Boomer aller Couleur nun mit tränenden Augen schreien werden, dass die wahre Demokratie und Sozialismus unvereinbar seien, so werde ich der Behauptung des linken Landesverbandes nicht widersprechen – im Gegenteil. Aber dazu später mehr.

Die Genossen von den Linken versuchen derweil, uns die Früchte des demokratischen – und damit des diesmal wirklich, also wirklich wirklich (!) funktionierenden – Sozialismus schmackhaft zu machen sowie die Rolle ihrer Vorgängerpartei in den Ereignissen des 17. Juni zumindest schön zu reden. Nicht, dass uns unsere tapferen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit noch enttäuschen. Doch was geschah an diesem verhängnisvollen Junitag?

Tatsächlich befand sich die junge DDR 1953 am Rande des Zusammenbruchs. Die Umsetzung des Sowjetisierungspläne der SED-Führung führten fast zu Katastrophe: Die Preiskontrolle führte zur Verteuerung aller möglichen Produkte, die Emigrantenbewegung war auf Höchstniveau – viele der Auswanderer waren Mittelständler aller Art, die durch Kollektivierung und Bodenreform enteignet worden waren – und die Konzentration der Planwirtschaft auf den Aufbau der Schwerindustrie hatte eine Lebensmittelknappheit zur Folge.

Im Frühjahr starb dann in Moskau der wortwörtlich stählerne Führer der kommunistischen Welt, was Stalins ehemalige Stiefellecker veranlasste, das Sowjetimperium in einen monatelangen Machtkampf um dessen Erbe zu verwickeln. Das Machtvakuum beim Großen Bruder führte in Ost-Berlin zu einer großen Verunsicherung, ebenfalls erkannte man die Verfehlungen der eigenen Wirtschaftspolitik, sodass man sich im Juni zu Reformen durchrang.

Zuvor hatte man jedoch die Erhöhung der Arbeitsnorm (das ist die für einen bestimmten Lohn zu leistende Arbeit) erhöht, was bei den Arbeitern als Farce empfunden wurde – dies sollte einer der entscheidenden Auslöser für die ersten Proteste am 17. Juni sein. Zuvor gab es jedoch auf dem Land schon zu Widerstandsaktionen: so wurden Flaggen verbrannt und SED-Funktionäre und -Bürgermeister abgesetzt, verprügelt oder gar in Güllegruben geworfen.

Den entscheidenden Funken gaben dann am Morgen des 16. Juni 1953 Arbeiter zweier Großbaustellen in Berlin, die ihren Unmut über besagte Arbeitsnormen kundtun wollten. Sie zogen vor das „Haus der Gewerkschaften“, ein Gebäude des staatlichen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, und später vor den Sitz der DDR-Regierung.

Eine Ausweitung der Proteste fürchtend, verkündeten die Genossen die Rücknahme der Arbeitsnormen. Doch mittlerweile nahm eine Art Tocqueville-Effekt seinen Lauf: Die Forderungen der Protestler gingen mittlerweile weit über bessere Arbeitsnormen hinaus, und das Einlenken der Regierung wurde als Schwäche empfunden.

Mittlerweile hatte der Rundfunk im amerikanischen Sektor über die Demonstrationen berichtet, zurückhaltend zwar, dennoch ausreichend, um die Kunde im ganzen Gebiet der DDR zu verbreiten. Am nächsten Morgen schließlich, dem 17. Juni, brachen in ca. 500 Orten der jungen Republik Proteste und Streiks unabhängig voneinander aus.

Trotz der Spontaneität oder dem Mangel einer übergeordneten Führung gelang es den Protestlern schnell, das Regime in Bedrängnis zu bringen. In der Stadt Gera etwa wurde das dortige Stasigefängnis gestürmt, in Niesky und Görlitz – in Sachsen also, wo auch sonst – wurde sich der SED-Regierung für ein paar Stunden de facto entledigt. Parteibeamte wurden angegriffen, gedemütigt und in einem Fall sogar getötet. Im Verlaufe des Nachmittags griff schließlich die Armee des Bruderstaates ein: 20.000 Sowjetsoldaten rückten aus den Kasernen aus, gegen die T-34-Panzer der Roten Armee hatten die Protestler keine Chance. Innerhalb eines Tages war der Aufstand niedergeschlagen, lediglich an ein paar Orten gab es auch am 18. Juni noch Auseinandersetzungen.

Am 17. Juni 1953 schaute die ganze Welt nach Ostdeutschland. Bonn war ohnmächtig, abgesehen von Sympathieerklärungen und Appellen an die Westmächte konnte die Bundesregierung nicht viel tun. Die US-Regierung war verwirrt, sie traute der Sowjetunion die Inszenierung eines Aufstands zu oder zumindest, dass mehrere von den Kommunisten arrangierte Demos außer Kontrolle gerieten.

Winston Churchill, damals wieder Premierminister des Vereinigten Königreichs, sah in den Aufstand eher eine Gefahr für die Kontrolle der Alliierten über Deutschland (Gott stra… na, ihr wisst schon), und sprach der Sowjetunion jedes Recht zur Niederschlagung des Aufstandes zu. Für die SED waren die Ereignisse ein traumatisches Erlebnis. Ohne das Eingreifen der Sowjetunion hätte sie Kontrolle verloren, die DDR hätte den Tag oder die darauffolgenden Wochen nicht überlebt.

Das Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung wuchs, der Ausbau des Sicherheitsapparates wurde weiter forciert. Die kommunistischen Regierungen in Osteuropa waren besorgt, dass sich die eigenen Landsleute an den DDR-Bürgern ein Beispiel nehmen könnten. Zurecht, wie die Aufstände in Budapest und Prag beweisen sollten.

Weiterhin machten sich die Genossen in Ost-Berlin schnell daran, die Juniereignisse für die eigenen Zwecke umzudeuten. So erklärte Otto Grotewohl, der Ministerpräsident der DDR, den Aufstand zu einem „vom Westen gelenkten faschistischen Putschversuch“ (und wir beschweren uns, wie schnell man doch zum Faschisten erklärt werden kann…).

In den ostdeutschen Geschichtsbüchern wird später stehen, dass bezahlte Provokateure „irregeleitete Werktätige“ anführten, jedoch wurde diese Konterrevolution durch das Eingreifen sowjetischer Streitkräfte im „Geiste des proletarischen Internationalismus“ sowie das mehrheitliche Abwenden der Arbeiter von den Putschisten niedergeschlagen. Die „Absichten des Imperialismus“ waren so vereitelt worden.

Spannen wir mit der dargelegten Geschichtsklitterung den Bogen zurück zum Tweet der Genossen in Sachsen-Anhalt. Wie oben angekündigt, soll der Fokus nicht auf die Aufdeckung linker Heuchelei oder sonstige Zeitverschwendung gelegt werden, vielmehr will ich mich mit dem ersten Satz des Statements näher auseinandersetzen: „Sozialismus kann nur demokratisch sein.“

Während Konservative diesem vehement widersprechen werden, kann ich nur sagen: Ja. Ich ginge sogar noch einen Schritt weiter und sage das, was sich die Genossen wahrscheinlich nicht zu schreiben gewagt haben: Demokratie kann letzten Endes nur sozialistisch sein. Sozialismus und Demokratie sind zwei voneinander nicht zu trennende Begriffe, das eine bedingt das andere. Gewiss, das Demokratieverständnis der Kommunisten in der DDR war ein anderes als das der heutigen, parlamentarischen Demokraten.

Beiden gemeinsam ist aber ein zunehmender Totalitarismus im Laufe der Zeit. Der Unterschied ist, dass der „Totalitarisierungs-Prozess“ im parlamentarischen Westen wesentlich langsamer verläuft als in einer kommunistischen Diktatur. Seit Jahrzehnten können wir das Fortschreiten dieses Prozesses in der BRD beobachten, in den nächsten Jahren wird das gewiss nicht besser werden.

Ist es nicht bezeichnend, dass die aus reaktionärer Sicht besten Jahre der Bundesrepublik, die 50er Jahre, durch eine vergleichsweise autoritäre (im Sinne von „undemokratisch“, so würden es auf jeden Fall viele Linke bezeichnen) Adenauerregierung geprägt waren?

Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich damit den Aufständischen des 17. Juni in den Rücken falle, aber es war auch nie meine Absicht, diese Leute großartig zu verteidigen (Was nicht heißt, dass jemand, der Kommunisten in Jauchegruben wirft, mir nicht sympathisch ist…). Sie forderten ja nicht die Rückkehr des Alten Europas, sondern freie Wahlen oder ähnlichen Unsinn.

Auch spätere Aufstände im Ostblock gingen in diese Richtung, im Prager Frühling z. B. wurde keine grundsätzliche Kritik an der vorherrschenden Ideologie an sich geäußert, man forderte nur eine freundlichere, eine „demokratischere“ Form des Sozialismus. Es sei hier deshalb noch einmal betont: die Konsequenz einer jeden Demokratie ist die vollständige Umfassung des Einzelnen durch den Staat.

„Volksherrschaft“ bedeutet im Endeffekt nichts anderes als die zwanghafte Eingliederung eines jeden in das Staatsgebilde. Alles und jeder muss politisiert werden, jede Tat wird zu einem politischen Akt, jedes Thema wird zu einem politisch aufgeladenen Thema. Eine in meinen Augen dystopische Aussicht für die Zukunft ist das. Darum ist es wichtig, dies einem jeden Konservativ-liberalen immer wieder vor Augen zu führen.

Fridericus Vesargo

Aufgewachsen in der heilen Welt der ostdeutschen Provinz, studiert Vesargo jetzt irgendwas mit Musik in einer der schönsten und kulturträchtigsten Städte des zu Asche verfallenen Reiches. Da er als Bewahrer einer traditionsreichen, aber in der Moderne brotlos gewordenen Kunst am finanziellen Hungertuch nagen muss, sieht er sich gezwungen, jede Woche Texte für die Ausbeuter von der Krautzone zu schreiben. Immerhin bleiben ihm noch die Liebesgrüße linker Mitstudenten erspart…

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