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US-Big-Tech vs. Neu-Delhi: Die digitale Multipolarisierung

6. Januar 2023
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Es war kein leichtes Jahr für Meta, Alphabet und Co. Zwar hält die Marktdominanz auch diesseits des Atlantik an, aber neue EU-Regulierungen machten den amerikanischen Technologiekonzernen zuletzt zu schaffen. Und die US-Tech-Giganten werden dieses Jahr auch an einer anderen Front viel Kraft lassen: In Indien bahnt sich eine Mischung aus Lizenzanforderungen und kartellrechtlichen Einschränkungen nach EU-Vorbild für viele Plattformen an, deren Konsequenzen für den Endverbraucher noch schwer abzusehen sind.

Ende Dezember empfahl ein indischer Parlamentsausschuss die Verabschiedung eines Gesetzes über den digitalen Wettbewerb. Dort ging es ähnlich wie bei dem im Juli von der EU verabschiedeten Digital Markets Act um Gatekeeping, welches beispielsweise durch den Ausschluss der Zahlungssysteme von Drittanbietern betrieben und mit Strafen von bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes belegt werden soll, aber auch um andere Methoden wie Zwangsrabatte, denen man nun den Riegel vorschieben will. Zudem plant die Regierung ein neues Telekommunikationsgesetz, welches ihr mehr Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten über Tech-Firmen geben soll. Einige US-amerikanische Kommentatoren wittern ein Wiederaufrollen eines quasi-kolonialistischen Kontrollwahns, in Anspielung an einige Gesetze aus dem späten 19. Jahrhundert, die mit dem neuen Regime ersetzt werden sollen.

Lizenzen für WhatsApp, Gmail und andere und insbesondere die weitere Einschränkung der Privatsphäre durch Anforderungen an die Kenntnis der Plattformnutzer kündigen eine Regulierung im großen Stil an, gegen das sich die Tech-Konzerne bereits rechtlich wehren. Gegen den Beschluss der indischen Kartellbehörde zu einer Strafe von 162 Millionen Dollar wegen marktbeherrschender Maßnahmen im Android-Umfeld legte Google kürzlich Berufung ein. Im „Wall Street Journal“ las man, die Restchancen auf eine Rolle als Erfüllungsgehilfen im Überwachungsstaat würden nun mehr und mehr schwinden. Aber handelt es sich bei den gesetzlichen Maßnahmen wirklich um ein überwachungstechnisches Überholmanöver, wie die amerikanische Presse es nun betont?

Nun kann man mit einigem Recht fragen, ob sich Indien in Sachen Überwachung nicht zumindest auf einem ähnlichen Weg befindet wie China. Schließlich kam die digitale Skalierung in diesen beiden Ländern bisher vor allem dadurch zustande, dass der Zugang der riesigen Einwohnerzahl ausgeschöpft wurde. Und tatsächlich kam die Digitalisierung in Indien im Gegensatz zum Westen und auch zu China überwiegend durch staatliche Intervention voran. Digitale Identifizierung (Aadhaar), Zahlungsdienste (UPI) sowie das Open Network for Digital Commerce (ONDC) haben in Indien eine flächendeckende Nutzung erreicht, und viele sehen die Gefahr von zunehmender Überwachung durch Aadhaar.

Ein Ekelreflex sei jedem Libertären beim Lesen dieser Zeilen gestattet – nicht nur wegen der zunehmenden Überwachungstendenzen, die den chinesischen sehr ähneln, sondern auch wegen des staatlich aufgezogenen Digitalsektors. Zu letzterem Einwand ist aber anzumerken, dass es sich hier um recht standardisierte Produkte und Dienstleistungen handelt, die wesentlich von westlicher Technologie inspiriert entwickelt und mit vergleichsweise simplen digitalen Infrastrukturen bereitgestellt werden konnten. Die Effizienzfrage darf gestellt werden – allerdings geht die möglichst rasche Erschließung von (Human‑) Kapital in Schwellenländern wie Indien der bestmöglichen Verwendung dieses erschlossenen Kapitals, die mittelbar zur Innovation führt, noch immer in großen Teilen voraus.



Hinzu kommt die Frage nach der kulturellen Einflusssphäre, die im immer noch stark traditionell geprägten Indien unter einem anderen Stern steht als etwa in China, wo seit Mao Tse-tung der rein politische Kulturalismus herrscht. In Indien besteht aus dem Volk heraus noch in stiller Übereinkunft der generelle Abgrenzungsanspruch eines Kulturraums, der wesentlich durch das Kastensystem charakterisiert wird. Aus diesem Volk heraus generieren sich weder aufwendig orchestrierte „Soziale Medien“ noch On-Demand-Videoplattformen. Die beschriebenen digitalen Dienstleistungen dienen der Befriedigung von vergleichsweise praktischen Alltagsbedürfnissen und erreichen aufgrund der kulturellen Vorbedingungen längst nicht die Binge-Spirale eines entfesselten Konsumismus, wie er in großen Teilen des Westens mittlerweile zu finden ist – zumindest bisher nicht.

Selbstverständlich kommt eine politische Elite hinzu, welche die kulturprägende – oder auch zersetzende – Kraft der technopolitischen Einflusssphäre zunehmend zu erkennen scheint und sich mit dem Gesetz gegen diejenigen Akteure zu wehren versucht, die Daten für weit mehr zu nutzen wissen und beanspruchen als für Identifizierung und Zahlungsdienste.

Der gemeinsame Nenner der Überwachungstendenzen – in Neu-Delhi stehen mittlerweile mehr Überwachungskameras als in Peking – rechtfertigt aber noch keine Gleichsetzung des indischen und des chinesischen Weges. Möglicherweise stellt er in Teilen eine Übersprungshandlung gegen die Dominanz der amerikanischen „soft power“ dar, gegen die sich in beiden Ländern auf verschiedenen Ebenen Widerstand regt. Beide als Ausgeburten des östlichen Sozialautoritarismus zu sehen, ist freilich zu kurz gegriffen, gerade wenn man die geschichtlichen Entwicklungen beider Länder vergleicht – genauso wenig kann Europa als „Indien light“ gelten, wenn die EU als Vorreiter einiger regulatorischer Maßnahmen gilt. Die Rollen von China und Indien als weltpolitische Gravitationskräfte sind allerdings insofern verwandt, als sie der unipolar geführten Digitalsphäre rigoros Paroli bieten – auch wenn sie in Bezug auf die Technik gezwungenermaßen Epigonen sind.

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