Das war eine üble Nummer in Awdijiwka. Deutsche Medien sprechen von an die 1.000 Mann, die aus dem Kessel der Russen nicht mehr rechtzeitig herauskamen und während des ukrainischen Rückzugs gefangen genommen wurden. Auch die Verlegung von Asow-Elitekämpfern, die in der Presse inzwischen zur „dritten Sturmbrigade“ umgetauft wurden (möglicherweise, um den Nachgeschmack ihres Wolfsangel-Logos, dessen Hintergrund vor dem Krieg noch eine schwarze Sonne zierte, beim westlichen Publikum abzuschütteln), änderte nicht den Lauf der Dinge. Die Frontstadt war bereits seit 2014 umkämpft, damals noch zwischen prorussischen Separatisten und der Ukraine, und war von dieser in den letzten zehn Jahren zu einer wahren Festung ausgebaut worden.
Der erste entscheidende Durchbruch der Russen vor einem knappen Monat liest sich auch dementsprechend filmreif: Gut einen Kilometer arbeitete man sich wochenlang still und heimlich durch ein zugeschüttetes Abwasserrohr vor, um den Ukrainern dann hinter der Front in den Rücken zu fallen. Bemerkenswert, welch primitive Methoden auf dem so oft thematisierten „gläsernen Schlachtfeld“ des modernen Krieges zwischen zwei Nationen, die über die Mittel verfügen, den Himmel mit Beobachtungsdrohnen zu sättigen, die ihnen jede Panzerkolonne lange vor ihrem Eintreffen ankündigen, dann doch einen Unterschied machen können. So kam es zum ersten bedeutsamen Fußfassen der Russen in den Wohngebieten der Stadt.
Von da an verschlechterte sich die Situation aus ukrainischer Sicht zusehends, bis vergangenes Wochenende die letzte Versorgungslinie derart unmittelbar gekappt zu werden drohte, dass es zu einem wenig geordneten Rückzug der Ukrainer kam. So endete die Belagerung, die seit Oktober andauerte und neben Bachmut bei Weitem die größte Schlacht des bisherigen Krieges darstellt, in einer moralisch wie strategisch bitteren Schlappe für den Wertewesten. Strategisch bitter, weil das russisch besetzte Donezk von Awdijiwka aus unter ukrainisches Mörserfeuer genommen werden konnte und sich die Stadt zudem geeignet hätte, um von dort aus eine Offensive auf die Hauptstadt des gleichnamigen Oblast zu starten.
Spätestens jetzt scheint sich auch in der deutschen Medienlandschaft ein Stimmungsumschwung verfestigt zu haben: Während vor wenigen Monaten in solchen Sendungen noch die Rückeroberung sogar der Krim als nicht verhandelbares Kriegsziel ausgegeben worden war und jeder, der das Ganze mit einer Einigung an Putins langem Tisch zu Ende gehen lassen wollte, niedergebrüllt wurde, macht man uns bei „Markus Lanz“ inzwischen sogar schon Gebietsabtritte in der Ostukraine als Zugeständnis in etwaigen Friedensverhandlungen schmackhaft: „Während Lanz [auf Berichte über schwindende Moral in der ukrainischen Bevölkerung] überrascht reagierte, machte Florence Gaub deutlich, dass auch das Abtreten bestimmter Gebiete als Sieg zu betrachten sei, denn: ‚Militärischer Sieg ist immer eine Skala.‘“ Das klingt doch schon ein wenig anders.
Der Ball liegt nun beim Westen. Die verbleibenden Optionen sind, etwa durch die Lieferung von Waffen wie dem Taurus-Marschflugkörper, mit dem die für die russischen Versorgungslinien essenzielle Krim-Brücke zerstört werden könnte, weiter zu eskalieren, oder die Ukraine tatsächlich an den Verhandlungstisch zu bitten, den man, wie gerade geschildert, rhetorisch bereits zu decken scheint. Ansonsten bliebe nur eine Baerbocksche „360-Grad-Wende“, also heiter weiter, bis sie uns über kurz oder lang dann erklären können, warum auch russische Panzer in Kiew als militärischer Sieg der Ukraine zu betrachten sind.
Ich komme auf dieses Thema nicht zu sprechen, weil der halbstündige Geschichtsvortrag Tucker Carlsons mich davon überzeugt hätte, dass die Ukraine kein Land ist und ihre Ostgebiete rechtmäßig zu Russland gehören. Der territoriale Konflikt dieser beiden Länder ist mir, salopp ausgedrückt, egal. Der existenzielle Konflikt des Westens findet innenpolitisch statt, zwischen den indigenen Völkern unserer Länder und den ihnen feindlich gegenüberstehenden Mächten des Regenbogens. Geht dieser zu unseren Ungunsten aus, gibt es kein Deutschland mehr, dessen Interessen man gegen etwaig drohende russische Aggressionen verteidigen könnte. Und ich denke, ganz kühl strategisch betrachtet spielt uns das Ganze innenpolitisch in die Karten.
Die demokratische Macht in unserem Land geht zu weiten Teilen immer noch von „Boomer-Bernds“ aus, also stinknormalen mittelständischen Leuten, denen es in erster Linie ums gemütliche Grillen im Einfamilienhausgarten geht. Boomer-Bernd wurde jetzt für zwei Jahre erzählt, dass seine Energierechnungen Saltos schlagen, weil in der Ukraine erfolgreich unsere Freiheit verteidigt wird und wir dabei helfen müssen. Frei nach Gauck: „Wir können auch einmal für die Freiheit frieren.“ Boomer-Bernd hat diesen Frame ein Stück weit gekauft, jedoch mit Unbehagen und gewissen Restzweifeln sowie natürlich dem schalen Beigeschmack seiner Entbehrungen selbst. Wenn nun am Ende dieser Strapazen trotz allem eine kaum mehr schönzuredende ukrainische Niederlage steht, kommuniziert das zwei Dinge: Die deutschen Machthaber haben mit seinem Wohlstand gepokert und verloren. Sie sind Versager, und alles, was sie anfassen, wird zu Scheiße. Gleichzeitig wurde er mit dem Schreckgespenst eines weiteren Durchmarsches der Russen nach dem Niederringen der Ukraine in NATO-Länder und letztlich in Boomer-Bernds Vorgarten hinein belogen. Diese Gefahr hat nie ernsthaft bestanden.
Gleichzeitig wurde die Ukraine von unseren innenpolitischen Feinden auch mit einer gewissen woken Symbolik aufgeladen, während der Russe zur großen äußeren Bedrohung für die bunte Regenbogenwelt stilisiert wurde. Transsexuelle Amerikaner wurden zum Armeesprecher gemacht, wie etwa RND, die Parteizeitschrift der SPD, damals stolz berichtete. Dass die tatsächliche ukrainische Bevölkerung wenig bis gar nichts mit solchen Späßen am Hut hat oder haben will, spielt für die Symbolkraft im öffentlichen Auge keine Rolle. Eine Niederlage der Ukraine, trotz aller Bemühungen des Wertewestens, wird auch als Niederlage des Progressivismus in das öffentliche Bewusstsein eingehen.