Dunkel
Hell
Dunkel
Hell

Brüssels EU-Traum: Weltmacht der Moral

3. Dezember 2021
in 7 min lesen

Natürlich durfte auch im Ampel-Vertrag das ewige Mantra nicht fehlen: Die EU, so die Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP, solle sich zu einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ entwickeln. Als Ziel nannte Olaf Scholz ein „souveränes Europa“. In der Konsequenz würde dies die Abschaffung Deutschlands als eines eigenständigen und selbstbestimmten Nationalstaats bedeuten – mithin die Entmachtung jenes Landes, das Scholz als rot-grün-gelber Kanzler regieren will.

Keine Sorge, noch ist es nicht so weit. Seit 1983 geistert das Projekt der ever closer union durch Politik und Medien, zuletzt beschworen es Berlin und Paris in ihrem im Mai 2019 unterzeichneten Vertrag von Aachen. Apropos Paris: Da Scholz als Finanzminister ein exzellentes Verhältnis zu seinem französischen Amtskollegen aufgebaut hat, könnte das Konzept einer „immer engeren Union“ bald durch eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik einen entscheidenden Schritt vorankommen – trotz (oder dank?) Christian Lindner. Auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik dürfte angesichts einer Ministerin, die wahrscheinlich mehr Gewicht auf „feminist foreign policy“ als auf geopolitische Interessen legt, kein Problem sein.

Friedensprojekt oder Resteverwertung?

Derartige Pläne, sollten sie denn existieren, wären freilich nur denkbar als deutsch-französische Alleingänge. Zwar würden sie im nächsten Jahr Emmanuel Macrons Wiederwahl begünstigen, die EU aber endgültig an den Rand der Spaltung führen. Da es ihr schon als Staatenbund nicht gelingt, die divergierenden Interessen der Mitglieder unter den Brüsseler Hut zu bringen, bleibt die Vorstellung eines Bundesstaates EU, der die globalen Geschicke mitbestimmt, die Utopie geschichtsvergessener Kosmopoliten und verträumter Internationalisten.

Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen – nach fast 500jähriger Dominanz haben die Europäer auf der weltpolitischen Bühne längst ausgespielt. Nach den großen Entdeckungsreisen der Portugiesen und Spanier, die sich durch päpstlichen Schiedsspruch die von ihnen eroberte Hemisphäre teilten, waren es die Holländer, die sich als Händler Macht und Reichtum erwarben. Franzosen, Dänen und Belgier folgten, auch Russen, Italiener und Deutsche reihten sich in die Kolonisatoren ein. Sie alle aber wurden übertroffen von Großbritannien, das dank seiner Flotte die Meere beherrschte und am Schluß das größte Weltreich sein eigen nennen konnte.

Englands Abstieg begann mit dem Aufstieg Amerikas als Resultat europäischer Selbstzerfleischung. 1945, nach dem „dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland“ (Winston Churchill), lag der Kontinent in Trümmern. Jetzt reiften die Paneuropa-Ideen des japanisch-österreichischen Publizisten Richard Coudenhove-Kalergi (1894-1972), der bereits nach dem Ersten Weltkrieg die Bildung eines Staatenbundes vorgeschlagen hatte, um weitere kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses „Friedensprojekt“ lag 1957 der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zugrunde, die sich nach dem Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks (1973) zur Europäischen Union entwickelte und 1998 den Euro als Gemeinschaftswährung für bis heute neunzehn von insgesamt (nach dem Brexit) 27 Mitgliedsstaaten einführte.

Am Rockzipfel der Vereinigten Staaten

Angesichts des Kalten Krieges zwischen Ost und West, der spätestens 1949 mit der deutschen Teilung einsetzte und 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete, konnten sich die Westeuropäer vier Jahrzehnte lang Illusionen über ihre mediokre Rolle im neuen Kräftespiel der Mächte hingeben. Ob das zerstückelte und demoralisierte Deutschland, ob das auf seine neblige Insel zusammengeschrumpfte United Kingdom oder das 1940 besiegte und 1945 gnadenhalber zum alliierten Mit-Sieger erklärte Frankreich, das obendrein in Vietnam und Algerien gedemütigt wurde – die drei ehemals Großen des Kontinents sanken, der Not gehorchend, auf den Status eines Vasallen der USA herab.

Während die Westdeutschen, das Schicksal ihrer mitteldeutschen Brüder und Schwestern vor Augen, dank Uncle Sams demokratischer reeducation zu atlantischen Musterschülern gerieten, trauern die Franzosen bis heute ihrer verblichenen gloire nach. Hin und wieder begehrten sie gegen den überseeischen Hegemon auf, doch schließlich mußten auch sie sich in das Unvermeidliche fügen. Den Engländern blieb mit dem folkloristischen Commonwealth zwar die Illusion globaler Größe, für den Ernstfall waren sie jedoch während des Kalten Krieges auf ihren angelsächsischen Vetter angewiesen, der im Rahmen der Nato alle Westeuropäer unter seine Fittiche nahm. Zumindest haben es die Briten aber 2020 mit dem Brexit geschafft, sich der Brüsseler Fesseln zu entledigen und ihr politisches Schicksal selbst zu bestimmen.

Gleichwohl: Auch wenn die Ost-West-Spaltung längst überwunden und der Kontinent zumindest geographisch wieder eine Einheit geworden ist, bleibt die Weltlage unverändert. Die Europäer, ob vereint oder solitär, spielen nicht mehr in der Ersten Liga. Mochte das 19. Jahrhundert noch das britische gewesen sein, das 20. war schon das amerikanische, und das 21. wird, wenn nicht das chinesische, auf jeden Fall das asiatische Jahrhundert werden.

Keine gemeinsamen Interessen

Zwar ist Europa ein miteinander verwandter Kulturkreis, eine Nation aber mit gemeinsamer Sprache ist es nie gewesen. Im Lauf der Jahrhunderte formierten sich aus einzelnen Völkern unterschiedliche Nationen mit unterschiedlichen staatlichen Strukturen. Obwohl es unter ihnen nach wie vor Rivalitäten und Animositäten gibt, sind nach den verheerenden Erfahrungen der Vergangenheit kriegerische Auseinandersetzungen aber nicht mehr zu befürchten.

Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die Union gegenwärtig so tief und so vielfältig gespalten ist wie nie zuvor: Ost- und Mitteleuropäer, 1989/90 nach bitteren Jahrzehnten dem sowjetischen Völkergefängnis entkommen, hüten ihre glücklich wiedergewonnene Souveränität wie einen Augapfel und verfolgen mit Argwohn alle Brüsseler und Straßburger Zentralisierungsvorhaben. Aus Furcht vor dem großen Nachbarn dringen Polen und Balten auf lokale Stationierung von US-Soldaten, was in der Rest-EU auf wenig Verständnis stößt.

Die Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wehren sich gegen jede Flüchtlings-Quotierung, weil ihnen jenseits von Oder und Elbe die Überfremdungsgefahr als tägliches Schreckensbild nur zu deutlich vor Augen steht. Gegenwärtig demonstrieren Litauer und Polen an der Grenze zu Weißrußland, wie ein konsequenter Schutz der EU-Außengrenzen aussieht – sehr zur Erleichterung besonders Deutschlands und der Brüsseler Kommission, die nach außen hin gleichwohl heuchlerisch Mauern und Zäune beklagen.

Der Euro, eigentlich als Krönung der Vereinigung gedacht, treibt seit Jahren Nord und Süd auseinander, weil Länder mit völlig unterschiedlichen Ökonomien und Mentalitäten in das Joch einer Einheitswährung gezwängt wurden. Selbst in der Klimapolitik ist die vermeintliche Union gespalten: Während Deutschland, Österreich und Luxemburg den Ausstieg aus Kernkraft und Erdgas fordern, plädieren die meisten Mitglieder – darunter Frankreich, Belgien, die Niederlande, Schweden, Finnland sowie die ehemaligen Ostblock-Staaten – für die Einstufung jener Energiequellen als „nachhaltige Investitionen“ und setzen auf den Bau moderner Reaktoren, die nur wenig radioaktiven Müll verursachen.

Weltmacht im Rechthabenwollen

Jenseits des von Charles de Gaulle propagierten „Europas der Vaterländer“ sind alle Konzepte, die europäische Vielheit zu einer Einheit zu bündeln, bislang entweder gescheitert (Napoleon, Hitler) oder unrealistisch (Europa der Regionen, Europa der z
wei Geschwindigkeiten). Eine Illusion ist auch die Vorstellung, Frankreich – in der EU die einzige Atommacht mit Vetorecht im Weltsicherheitsrat – könnte seine Nuklearwaffen oder sein Vetorecht eines Tages der Union zuliebe „vergemeinschaften“. Wegen all dieser disparaten Interessenlagen bleibt die von Henry Kissinger schon vor Jahrzehnten gestellte Frage nach der „Telefonnummer“ der EU bis heute unbeantwortet. Als Binnenmarkt von 430 Millionen Konsumenten mag die Union interessant sein, als politischer global player auf Augenhöhe mit China, Rußland und den USA ist sie ein Totalausfall.

Daran wird auch das am 1. Dezember von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgestellte Projekt „Global Gateway“ nichts ändern. Binnen sechs Jahren bis 2027 mit 300 Milliarden Euro ausgestattet, soll es in Afrika, Asien und Lateinamerika der von China 2013 mit einer Billion Dollar initiierten „Neuen Seidenstraße“ Paroli bieten und neben Hilfen bei Infrastruktur-Maßnahmen die „europäischen Werte“ exportieren. Angesichts der inneren Zerstrittenheit der EU dürfte dieser Plan indes an den heimischen Realitäten scheitern.

Dennoch läßt Brüssel nichts unversucht, die Union allen Widrigkeiten zum Trotz in ein souveränes Imperium zu verwandeln. Als Instrument dient der Europäische Gerichtshof. Sein Ziel ist es, die demokratischen Verfassungen der Mitgliedsstaaten auszuhebeln, so daß die Kommission ultimativ die letzte Instanz wird und die Union endlich nach eigenem Gusto vereinheitlichen kann. In Deutschland sind es nur wenige wie Peter Gauweiler und Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, die laut Alarm schlagen. Noch im November warnte Papier, da die EU kein Bundesstaat sei, habe sie keine Allkompetenz. Daher könnten sich die EU und ihre Organe nicht immer weitere Kompetenzen selbst zubilligen oder im Sinne einer staatlichen Allzuständigkeit selbst einräumen. Doch diese Gefahr bestehe (Tichys Einblick, 12/2021).

Was bleibt, ist die Waffe der Moral. Deren Feldherrenhügel haben die Brüsseler Kommission und die den öffentlichen Diskurs dominierenden politmedialen Eliten der einzelnen Mitgliedsstaaten seit Jahren besetzt. Von dort oben definieren sie die universalen Werte der Zukunft: grenzenlose Weltoffenheit, postnationale Multikulturalität, Vielfalt als Ausdruck allgemeiner Diversität und gleichberechtigter Inklusion. Ausgangspunkt ist der von dem amerikanischen Rechtsphilosophen Richard Rorty propagierte Relativismus.

Relativ am Abgrund

Für Rorty ist das Ideal eine „liberale Gesellschaft, in der absolute Werte und Maßstäbe nicht mehr existieren werden“. Das individuelle Wohlbefinden werde das einzige sein, das anzustreben sich lohne. Der Kampfbegriff des Werte-Relativismus ist daher die „positive Toleranz“; sie gesteht jedem seinen eigenen Standpunkt zu, verlangt aber, daß alle Positionen als gleichberechtigt akzeptiert werden. Negative Urteile über andere Meinungen dürfen somit nicht gefällt werden, weil dies diskriminierend wäre.

Mittlerweile ist dieser Relativismus, erneut ausgehend von den USA, durch cancel culture und critical race theory erweitert und verschärft worden. Ziel ist es, traditionelle Einheiten wie Familie, Volk, Nation und Staat in einer erträumten staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft der Freien und Gleichen aufgehen zu lassen. Hierbei käme, so die Hoffnung der Europa-Enthusiasten, einem Bundesstaat EU die Rolle eines Schrittmachers zu.

Es entbehrt nicht der Ironie, daß ausgerechnet Wladimir Putin, der im Westen als Gottseibeiuns geschmähte Präsident, seine Landsleute auf Parallelen in der eigenen Geschichte hingewiesen hat. In einer Rede auf dem 18. Valdai-Diskussionsforum in Sotschi erinnerte er am 21. Oktober daran, daß sich die im Westen zu beobachtenden Verwerfungen nicht von den Gesellschaftsexperimenten unterschieden, die 1917 im Zuge der bolschewistischen Oktoberrevolution stattgefunden hätten.

Es sei nicht neu, daß selbsternannte Anwälte des „gesellschaftlichen Fortschritts“ entschlossen seien, der Menschheit ein neues Bewußtsein anzuerziehen. Putin: „Auch die Bolschewiki erklärten, daß sie die traditionelle Lebensweise, die politische und wirtschaftliche Lebensweise sowie den Begriff der Moral selbst, die Grundprinzipien einer gesunden Gesellschaft, verändern würden. Sie versuchten, jahrhundertealte Werte zu zerstören, sie stellten die Beziehungen zwischen den Menschen infrage, sie ermutigten dazu, dies auch mit Blick auf die eigenen Partner und Familien zu tun. Dies wurde als der Marsch des Fortschritts gefeiert. Und das war in der ganzen Welt sehr populär und wurde von vielen unterstützt, und wie wir sehen, geschieht das gerade jetzt auch“ (The Epoch Times, 24. Oktober 2021).

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

Mehr vom Autor