Von den alten Utopien und Weltanschauungen ist heute nicht mehr viel übriggeblieben. Ist jetzt die Zeit für den Libertarismus gekommen?
Von den alten Utopien und Weltanschauungen ist heute nicht mehr viel übriggeblieben. Natürlich gibt es sie noch, die überzeugten Kommunisten, die Marx‘ Kapital wie einen Schatz hüten. Oder die unbelehrbaren Nationalsozialisten, die die Rückkehr eines starken Führers herbeisehnen und die jüdische Weltverschwörung als Grund allen nationalen Übels ausgemacht haben. Aber ehrlich gesagt sind mir Angehörige der beiden Gruppen fast noch nie begegnet. Im Studium habe ich zwar ein paar Kommunisten kennengelernt, allerdings schienen sie eher mit dem Attribut „Kommunist“ zu kokettieren, als wirklich überzeugte Anhänger dieser Ideologie zu sein. „Die Idee ist nicht schlecht, aber sie wurde bisher nicht richtig umgesetzt“, so das übliche Argument, was ihr wahrscheinlich auch schon mal zu hören bekommen habt.
Neonazis habe ich sogar noch nie getroffen, weder im Studium noch im zivilen Leben. Ich frage mich allmählich, wo sich die ganzen Rechtsextremen versteckt halten, vor denen ständig gewarnt wird. In Anbetracht dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, inwieweit politische Anschauungen überhaupt noch eine Rolle spielen und ob wir nicht schon von einem „Ende der Geschichte“ sprechen können, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in den 90ern formuliert hat. Ein Libertärer würde diese Frage wohl mindestens mit „jein“ beantworten. Zwar ist sein Ziel die Schwächung nationaler Strukturen und die Marginalisierung des (Sozial-)Staates.
Allerdings leben wir aus seiner Sicht schon längst (oder noch immer?) in einem sozialistischen Autoritätsstaat. Der Bürger wird bewacht und kontrolliert. Er wird gezwungen einen Großteil seines Geldes (oft über 50 Prozent) in staatliche Systeme zu transferieren und mit seinem Eigentum andere zu alimentieren. Die Demokratie dient in diesem Sinne als Herrschaftsinstrument einer Mehrheit über die Minderheit. Gemäß Robert Nozick erkennt der Libertarismus die Freiheit der Individuen als alleiniges Ziel und alleinige Legitimation für staatliches Handeln an.
Der Freiheitsbegriff Libertärer fußt dabei insbesondere auf den Eigentumsrechten des Einzelnen.
Libertarismus wird bisweilen als radikaler Liberalismus verstanden, der sozialstaatliche Umverteilung als Verstoß gegen Eigentumsrechte ablehnt und als maximale Staatsform den Minimalstaat zulässt. Anarchistischere Varianten lehnen den Staat als Herrschaftsform komplett ab und plädieren für eine Privatrechtsordnung.
Geschichte
Libertarismus ist eine vergleichsweise junge Idee. Zwar wurde der Begriff „libertaire“ bereits 1857 erstmals von dem französischen Anarchisten Joseph Déjacque verwendet, jedoch formierte sich erst in den 70er Jahren in den USA eine politische Bewegung, deren Anhänger sich als „libertarians“ bezeichneten. Der amerikanische Libertarismus verstand sich insbesondere als Reaktion auf die Sozialreformen des „New Deal“ in den 1930er Jahre und die zunehmende Ausdehnung sozialstaatlicher Maßnahmen der 60er Jahre in den klassisch freiheitlich geprägten USA.
Der Begriff „liberal“ wurde zunehmend mit linker Politik in Verbindung gebracht, die einer vermeintlichen oder tatsächlichen Diskriminierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen durch staatliche Umverteilung entgegenwirken sollte.
Libertarismus in der Gegenwart
Durch das Internet und die Entstehung verschiedener libertärer/liberaler Institutionen erlebt die politische Philosophie des Libertarismus in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen in den USA erreichte die Libertarian Party mit circa 4,4 Millionen Wählern (3,29%) ein Rekordergebnis. Auch das Silicon Valley und viele seiner Vordenker gelten als Anhänger libertärer Ideen.
In Deutschland konnte die PdV bisher nicht Fuß fassen, aber „eigentümlich frei“ steigert seit Jahren die Auflage und Institutionen wie die „Hayek-Gesellschaft“ oder „Students for Liberty“ sorgen für die zunehmende Verbreitung libertärer Ideen. Der deutsche Libertarismus ist dabei vor allem von Ideen der „Österreichischen Schule“, einer liberal-libertären Philosophie innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, geprägt.
Kritikpunkte
Kritisiert werden liberale Ideen vor allem von linker, aber teilweise auch von rechter Seite. Besonders die einseitige Konzentration auf Eigentumsrechte wird häufig als problematisch angesehen. Unregulierte Marktkräfte führen zu Vermögenskonzentration und Verteilungskämpfen, meinen die Kritiker. Libertäre halten dem den Ausgleichsmechanismus des Marktes entgegen, der Anreizstrukturen fördert und der Machtkonzentration entgegenwirken kann. In ihren Augen setzt gerade der Sozialstaat diese Mechanismen außer Kraft. Ein weiterer Kritikpunkt am Libertarismus betrifft ebenfalls die Eigentumsrechte. Die kritische Frage lautet, ob es ein absolutes Recht an natürlichen, externen Rechten überhaupt geben kann. Darf ein Individuum absolute Rechte, beispielsweise an einem Wald oder einem See, für sich beanspruchen? In diesem Bereich sind sich selbst Libertäre uneinig. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die libertäre Haltung zum Staatswesen, vor allem auf die Haltung der Anarchokapitalisten. Die Ersetzung der Judikative und der Exekutive durch private Institutionen, wird vor allem von Konservativen als nicht praktikabel angesehen. Zudem ermögliche die Absolutheit der Eigentumsrechte den, wenn auch freiwilligen, Verzicht auf Grundrechte. Sklaverei oder Organhandel wären demnach mögliche Folgen.