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Ost und West – Hegemonie oder Koexistenz

22. April 2021
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Im Jahr 1889 veröffentlichte Rudyard Kipling eine Ballade mit den berühmten Eingangsversen: „Ost ist Ost, und West ist West, und es verbindet sie nichts, / Bis Erde und Himmel stille stehn am Tage des Jüngsten Gerichts“. Kiplings Osten hat nichts mit dem damals in Rußland heraufziehenden Kommunismus zu tun, sondern meint den asiatischen Kulturkreis, der vielen auch heute noch fremd und rätselhaft ist.

Als Helmut Schmidt 2012 im Alter von 93 Jahren Abschied von seinem bewunderten China nahm, traf er bei einem Zwischenstop in Singapur den 89jährigen Freund Lee Kwuan Yew, der einst den Stadtstaat gegründet und jahrzehntelang regiert hatte. Eines ihrer Gesprächsthemen waren die Menschenrechte und deren unterschiedliche Bewertung in Ost und West.

Manifest Destiny

Lee erklärte: „Weder die Chinesen noch die Japaner noch die Koreaner glauben, es sei ihre Pflicht, anderen Völkern zu sagen, wie sie sich verändern müssen und wie sie besser regiert werden können. Das ist eure Sache, sagen sie: ,Ihr müßt uns nicht folgen, und wir müssen euch nicht folgen!´“

Der Westen, so Lee, habe dagegen diesen „evangelikalen Zug“, den Glauben, er besitze ein System von universalem Wert, das über die ganze Welt verbreitet werden müsse: Demokratie und Menschenrechte. Dieser Einschätzung stimmte sein deutscher Gast zu, und beide verwiesen besonders auf den missionarischen Eifer der USA.

Und in der Tat: In seinem Aufsatz „Amerika als Modell – Die neue Weltordnung in historischer Perspektive“ (1992) weist der Historiker Hans-Jürgen Schröder nach, daß die Geschichte der Vereinigten Staaten seit ihren Anfängen von einer kontinuierlichen, zunächst kontinentalen, dann überseeischen Expansion gekennzeichnet ist, die letztlich zum globalen Führungsanspruch Amerikas auch in moralischer Hinsicht geführt hat.

Im Unterschied zu den europäischen Kolonialstaaten zielte die Expansion nicht primär auf die formelle Beherrschung überseeischer Territorien, sondern auf indirekte Einflußnahme mittels ökonomischer Durchdringung („Open-Door-Prinzip“). Um zur Sicherung der Absatzmärkte überall den freien Handel zu gewährleisten, mußte Washington bald jedoch immer öfter als ultima ratio zur militärischen Intervention greifen, wie die beiden Weltkriege zeigten, die den Aufstieg der USA zur dominierenden Macht besiegelten.

In vierzehn Punkten hatte Präsident Woodrow Wilson 1918 sein Programm für eine Friedensordnung nach amerikanischem Muster dargelegt, das unter Präsident Franklin Roosevelt als „One-World“-Konzept fortgesetzt wurde: Freiheit der Meere und Freiheit des Handels als wirtschaftliche Grundlage; Errichtung einer kapitalistischen Weltordnung auf der Basis liberaler demokratischer Prinzipien.

Messias mit Macken

Bis heute versuchen die USA, durch diese Verzahnung von Eigeninteressen und Export des Demokratie-Modells den politischen und ökonomischen Führungsanspruch durchzusetzen. Als „Katastrophe“ bezeichnete die Historikerin Hedwig Richter in der Süddeutschen Zeitung (15. Januar 2021) Amerikas Selbsteinschätzung als „best democracy“ und „greatest country“. Aufgrund der im Land grassierenden Gewalt und des strukturellen Rassismus sei diese Hybris und Selbstvergötterung mittlerweile zum globalen Problem geworden.

Es kann somit nicht verwundern, daß Peking angesichts der Anklagen aus Washington, China verstoße gegen das Völkerrecht und verletze ständig die Menschenrechte, eine Gegenbilanz aufmacht und die USA des Egoismus, der Doppelmoral und einer hegemonialen Denkweise beschuldigt.

Anfang April ließ die chinesische Gesellschaft für Menschenrechtsstudien verlautbaren: „Unter dem Deckmantel der ´humanitären Interventionˋ haben die Vereinigten Staaten oft andere Länder angegriffen. Nach einer unvollständigen Statistik hat es seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen 1945 und 2001 in 153 Regionen der Welt 248 bewaffnete Konflikte gegeben, von denen 201, also etwa 81 Prozent, von den USA initiiert worden sind.“ Viele dieser Aktionen hätten zu humanitären Katastrophen geführt.

Nach den Verheerungen durch den 2003 aufgrund einer Lüge ausgelösten Irak-Krieg und den bis heute andauernden Kämpfen in Libyen zeichnet sich in Afghanistan das nächste Debakel ab. Wenn am 11. September die letzten NATO-Truppen nach zwanzig Jahren das Land verlassen, steht der Rückkehr der Taliban an die Macht nichts mehr im Weg. Damit werden am Hindukusch die archaischen Stammesstrukturen einmal mehr alle Träume von Demokratie und Liberalismus zunichte machen.

Was immer man von Donald Trump hält, eines muß man ihm trotz seiner miserablen Manieren zugutehalten: er hat keinen neuen Krieg vom Zaun gebrochen, sondern die angemaßte Rolle des Weltpolizisten abgelehnt und statt dessen zahlreiche Soldaten zurückbeordert. Daß sein Nachfolger demgegenüber den alten Kurs wieder aufnehmen will, hat Joe Biden unmißverständlich klargemacht.

Die Gefahr, daß an Washingtons Seite auch Deutschland in militärische Konflikte verwickelt werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. So soll sich im August die Fregatte Bayern zu einer siebenmonatigen Fahrt in Richtung Indopazifik aufmachen – als Bekenntnis zu offenen Seewegen und als Botschaft an Peking, das im Südchinesischen Meer umstrittene Gebietsansprüche erhebt.

Die Rechten haben keine Idee von China

Hierzulande dürfte die Mission auf wenig Widerstand stoßen, denn nicht nur in den Medien ist die Volksrepublik längst zum Feindbild Nummer 1 avanciert. Während die Linken Chinas Staatskapitalismus verurteilen, der zu einer immensen sozialen Ungleichheit geführt habe, schütteln sich die Liberalen vor Abscheu angesichts eines digitalen Überwachungsstaates.

Und die Rechten? Viele von ihnen sehen eine Funktionärsclique in der Nachfolge Mao Zedongs am Werk, die nicht nur das eigene Volk versklave, sondern die ganze Welt im Visier habe. Die meisten im konservativen Lager verharren im eurozentrischen Denken, haben sich noch nie mit Chinas Entwicklung auseinandergesetzt und plappern nach, was die Mainstream-Presse oder Propaganda-Postillen wie Epoch Times verbreiten.

Vor wenigen Wochen jedoch kam es in Kreisen der Neuen Rechten zu einer aufgeregten Debatte. Anlaß war das im letzten Jahr auf deutsch erschienene Buch des Philosophen Zhao Tingyang „Alles unter dem Himmel – Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“. In seinem erstmals 2016 in Peking veröffentlichten Opus plädiert Zhao dafür, das gegenwärtige „internationale Dominanzsystem“ durch das Konzept einer kosmischen Universalität zu ersetzen – einer „inklusiven Welt“, die durch auf Vertrauen basierender Partnerschaft Konflikte in Kooperation verwandelt.

Als geschichtliches Vorbild dient dem Autor die Zhou-Dynastie (ca. 1050 – 256 v. Chr.), in der nach dem Prinzip des Tianxia („alles unter dem Himmel“) Völker und Kulturen friedlich zusammengelebt hätten. Diese utopisch anmutende Vision wurde in den meisten Medien als „Weltfrieden auf Chinesisch“ (Deutschlandfunk) oder als antiwestliches „Regime der Harmonie, das das Kollektiv über den Einzelnen stellt“ (Die Zeit) abgekanzelt. Auch die Neuen Rechten verloren bald das Interesse und widmeten sich wieder abstrusen Verschwörungstheorien vom „Great Reset“, dem „Großen Neustart“ – sei es die angeblich geplante Einführung eines Milliardärs- oder Konzernsozialismus, sei es eine globale Diktatur im Schatten von Corona.

Verschwörungstheorie statt Regierungspraxis

Als Hauptverschwörer gilt Klaus Schwab, der Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums, der im letzten Jahr dazu aufrief, nach dem Ende der Pandemie die Ökonomie weltweit gerechter und nachhaltiger zu gestalten.

Soll die Menschheit im Zeitalter der durch das Internet vorangetriebenen Globalisierung überleben, ist eine neue Weltordnung in der Tat unumgänglich. Mit seinem Buch liefert Zhao hierfür den entscheidenden Schlüssel, wenn er konstatiert: „Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz“. Dies gilt für das auf Gemeinschaft angewiesene Individuum wie für den Staat. Bei Klima, Umwelt, Pandemien etc. handelt es sich längst um globale Probleme, die sich nur kooperativ über Grenzen hinweg lösen lassen.

Man ist kein Propagandist des autoritären chinesischen Systems, wenn man feststellt, daß die erstmals 1953 vom damaligen Regierungschef Zhou Enlai vorgestellten „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“, für Pekings Außenpolitik verbindlich bis heute, grundlegende Maximen internationaler Beziehungen sind:

1. Gegenseitige Achtung der nationalen Souveränität und der territorialen Integrität;

2. gegenseitiger Nichtangriff;

3. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten;

4. Gleichberechtigung und gegenseitiger Nutzen;

5. friedliche Koexistenz.

In einem globalen Pluriversum sollten Unterschiede bezüglich Geschichte, Kultur und Gesellschaftssystem keine Rolle spielen. Im Rückblick auf Kiplings eingangs zitierte Ballade läßt sich indes sagen, daß die große Differenz zwischen Ost und West in der gegensätzlichen Wertung von Gemeinschaft und Individuum besteht: im Osten großes Wir und kleines Ich, im Westen großes Ich und kleines Wir. Nur bei beidseitiger Koexistenz, nicht durch hegemoniales Machtstreben, lassen sich hieraus entstehende Konflikte vermeiden.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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