Aus dem Hindukusch-Desaster des Westens ziehen auch hierzulande viele Beobachter endlich die längst fälligen Konsequenzen. So konstatierte Markus Decker, Korrespondent des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND): „Eine Lehre ist gewiß, die militärischen und politischen Grenzen von Auslandseinsätzen anzuerkennen. Ein zweites Afghanistan – darüber sollte Einigkeit herrschen – darf es nicht geben.“
Die deutlichsten Worte fand Armin Laschet. Der ungeliebte Kanzlerkandidat der Union beklagte „das größte Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung erlebt hat“. Das Konzept des nation building, des militärischen Eingreifens, um eine Diktatur zu beenden und eine Demokratie aufzubauen, sei in den letzten zwanzig Jahren „fast durchgängig gescheitert“.
Die kalte Arroganz der Macht
Zehn Minuten nach Beginn ihrer Regierungserklärung am 25. August erlaubte sich Kanzlerin Angela Merkel folgende, wie sie sich ausdrückte, „zugespitzte persönliche Anmerkung“: „Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen – das ist relativ mühelos.“ Doch dann formulierte sie selbst „kritische Fragen“, die sich alle Verantwortlichen schon vor Jahren hätten stellen müssen: Kamen die Ziele des Einsatzes wirklich bei der Mehrheit der Menschen in Afghanistan an? Hätten die großen kulturellen Unterschiede stärker gewichtet werden müssen? Wurde das Maß der Korruption unterschätzt?
Kein Zweifel: Ursache der schmählichen Niederlage sind Ignoranz und Arroganz des Westens, der mit seinen „Werten“ alle Welt beglücken möchte. Hierbei stehen die USA stets an vorderster Front. Schon damals klang wie Hohn, was Außenministerin Hillary Clinton im Februar 2010 anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz verkündete: „Wir werden unseren Grundsätzen treu bleiben. Der erste dieser Grundsätze: Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten.“
In Wahrheit haben die USA bei der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen noch nie Skrupel gehabt, sich über völkerrechtliche Prinzipien hinwegzusetzen. Unter dem Banner von „Freiheit und Demokratie“ verfolgen sie seit der Unabhängigkeit vor fast 250 Jahren ihre globalen Ziele, die sie zu Interessen der gesamten Menschheit erklären. In deren Namen betreiben sie als „unverzichtbare Nation“ (Madeleine Albright) eine angemaßte Weltmission.
Kein Interesse an McDonalds
Die Vereinigten Staaten seien am Hindukusch gescheitert, „weil die amerikanische Gesellschaft Afghanistan verachtet“, zitierte die Süddeutsche Zeitung am 26. August Jeffrey Sachs, Wirtschaftsprofessor der New Yorker Columbia University. Weder die Eliten noch die Öffentlichkeit hätten sich für das Land interessiert: „Die Afghanen spürten zutreffend, daß die Amerikaner nicht wegen afghanischer Interessen im Land waren, sondern wegen ihrer eigenen.“
Sachs, der SZ zufolge einer der führenden Experten der Welt für Entwicklungspolitik und Armutsbekämpfung, resümierte, gescheitert sei einmal mehr „die amerikanische Kultur und deren fehlendes Interesse, andere Gesellschaften zu verstehen“. Arme Länder, so Sachs, brauchten durchaus Hilfe beim Aufbau staatlicher Institutionen, aber nicht durch Militäreinsätze, sondern über die Vereinten Nationen, über Entwicklungsbanken, die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds.
Zieht man die Bilanz des nation building unter amerikanischer Militärbesatzung, bleiben als Erfolge seit 1945 nur Deutschland und Japan – zwei Staaten, die im Zweiten Weltkrieg besiegt und zu prosperierenden Demokratien entwickelt wurden. Der Vietnamkrieg hingegen endete 1975 mit einer demütigenden Niederlage, der Einsatz in Somalia (1992) scheiterte ebenso wie die Kriege im Irak und die Interventionen in Libyen und Syrien.
Mehr als ein neuer Popstar?
Doch noch sind die Menschenrechts-Bellizisten nicht verstummt. Mit Sympathie porträtierte die SZ dieser Tage Ahmad Massoud als „Galionsfigur im Widerstand gegen die Taliban“. Es handelt sich um den Sohn des legendären „Löwen vom Pandschir“, des in vielen afghanischen Provinzen noch immer verehrten Kämpfers gegen die Sowjetarmee. Wie einst sein Vater hat sich auch Ahmad Massoud ins Pandschir-Tal zurückgezogen und will von dort aus den Kampf aufnehmen als, so die SZ, „Verteidiger westlicher Werte, der Freiheit des Einzelnen, der Rechte der Frauen“. Für diesen Kampf bitte der junge Massoud um Geld, Waffen und moralische Unterstützung.
Während die USA und ihre Verbündeten einmal mehr Opfer der eigenen Verblendung geworden sind, zahlen sich für China Realismus und nüchterner Pragmatismus aus: Bereits Ende Juli, als mehr als die Hälfte Afghanistans unter Kontrolle der Islamisten stand, lud Außenminister Wang Yi eine neunköpfige Taliban-Gruppe, angeführt von Vizechef Mullah Abdul Ghani Baradar, nach Tianjin ein. Wang versprach ihnen Hilfe bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und hoffte auf die Bildung einer „offenen, inklusiven und repräsentativen Regierung“.
Auch Pekings wichtigste außenpolitische Doktrin, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, trägt Früchte: Mullah Baradar sicherte Wang zu, niemals Kräfte in Afghanistan zuzulassen, die gegen die Interessen der Volksrepublik handeln. Dies zielt auf Pekings Befürchtung, die islamistische Gewalt könnte über die 76 Kilometer lange Grenze nach China schwappen. Nach blutigen Anschlägen im eigenen Land, die zwischen 1997 und 2015 mehr als 430 Todesopfer forderten, hat Peking den Kampf gegen die „drei bösen Kräfte“ ausgerufen – gegen Separatismus, religiösen Extremismus und Terrorismus. Viele muslimische Untergrundkämpfer, die in Chinas nordwestlicher Provinz Xinjiang einen unabhängigen „Gottesstaat“ der Uiguren anstreben, sollen in Afghanistan Unterschlupf gefunden haben.
China steht schon vor der Tür
Der überstürzte Abzug der US-Truppen kommt Peking somit höchst ungelegen. Außenminister Wang Yi rief seinen Amtskollegen Antony Blinken auf, sich im Weltsicherheitsrat gemeinsam dafür einzusetzen, Afghanistan vor einem neuen Bürgerkrieg, vor einer humanitären Katastrophe und vor einem Rückzugsgebiet für Terroristen zu bewahren.
Nicht zuletzt geht es Peking auch um wirtschaftliche Interessen. Schließlich liegen mehrere Kooperationsprojekte im Nachbarland wegen der jahrelangen Instabilität brach – so ein Vertrag zur Erschließung der Ölfelder Faryab und Sar-i-Pul. Die Firma PetroChina erhielt 2011 für 400 Millionen Dollar den Zuschlag und unterzeichnete für die Bohrungen einen auf 25 Jahre laufenden Vertrag. Durch islamistische Anschläge könnte auch das von Staats- und Parteichef Xi Jinping initiierte Investitionsprojekt „Neue Seidenstraße“ gefährdet werden; die Straße verläuft durch Zentralasien und soll der Volksrepublik in Pakistan den Zugang zum Indischen Ozean sichern.
Aus geopolitischer Sicht dürfte für den Westen eine Allianz aus China, Rußland und einem antiamerikanischen Zentralasien, zu dem sich auch der Iran gesellt, für die nächsten Jahrzehnte das schlimmste Szenario sein, das sich denken läßt. Da es Washingtons vorrangiges Ziel ist, China, die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, am weiteren Aufstieg zu hindern, stellte Wang Yi am 26. Juli in Tianjin – pikanterweise zwei Tage vor seinem Treffen mit der Delegation der Taliban – der amerikanischen Vize-Außenministerin Wendy Ruth Sherman drei Forderungen:
1.) Die USA dürfen den „Sozialismus chinesischer Prägung“ nicht in Frage stellen; Chinas Weg und System seien die Wahl der Geschichte und des Volkes.
2.) Die USA dürfen nicht versuchen, Chinas Entwicklungsprozeß zu behindern. Alle einseitigen Sanktionen und technologischen Blockaden müßten aufgehoben werden.
3.) Die USA dürfen weder Chinas Souveränität noch dessen territoriale Integrität verletzen. Bei Xinjiang, Tibet und Hongkong gehe es nicht um Menschenrechte und Demokratie, sondern um Chinas Souveränität und Sicherheit. Schlüsselfrage sei Taiwan. An der Tatsache, daß die Insel ein Teil Chinas sei, habe sich nichts geändert; die USA müßten daher ihre diesbezüglichen Versprechen einhalten.
Schon heute zeichnet sich jedoch ab, daß die Thukydides-Falle wohl ein weiteres Mal zuschnappen wird. Vor 2.400 Jahren hatte der griechische Historiker als geopolitische Gesetzmäßigkeit konstatiert, eine aufsteigende Macht werde unvermeidlich in Konflikt mit der etablierten Vormacht geraten. Für Thukydides war der 27 Jahre dauernde Peloponnesische Krieg zwischen Sparta und dem aufstrebenden Athen (431-404 v. Chr.) ein Musterbeispiel für das sich ewig wiederholende Spiel der großen Antinomien: Aus dem Vergangenen, schreibt er in der Einleitung zu seinem grandiosen Werk, könne man klar erkennen, „daß auch das Zukünftige wegen der menschlichen Natur gleich oder ähnlich geschehen wird“.