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Der Krieg, die Wahrheit und die Moraltrompeter

13. April 2022
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Als Anfang April in Butscha, einem Vorort von Kiew, nach dem Abzug russischer Truppen zahlreiche tote ukrainische Zivilisten gefunden wurden, war weltweit das Entsetzen groß —zu Recht: Es handelte sich ohne Zweifel um Kriegsverbrechen. Am 6. April forderte Ronen Steinke in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeitung unter der Rubrik „Eine Zelle für Putin“, Rußlands Präsident müsse dafür vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden: „Und zwar besser heute als morgen. 10,4 Quadratmeter haben die Hafträume der Untersuchungshaftanstalt in Den Haag. Ein Bett, ein Tisch, eine offene Toilette.“

Tage später unterbrach Ursula von der Leyen ihre Reise in die ukrainische Hauptstadt und besuchte zuerst den Ort des Schreckens. Angesichts der aus einem Massengrab exhumierten Leichen stand auch für die EU-Kommissionspräsidentin fest, wer für das entsetzliche Geschehen die Verantwortung trägt: „Wir haben das grausame Gesicht von Putins Armee gesehen.“ An diesem Ort, so von der Leyen, sei „unsere Menschlichkeit zertrümmert“ worden.

Bei allem Verständnis für das lautstark artikulierte Entsetzen über die Geschehnisse in Butscha bleibt vielen Beobachtern ein Rätsel, wieso ein sowohl im Spiegel als auch in der Berliner Zeitung am 7. April online veröffentlichter Bericht über ein verstörendes Video bis heute von anderen Medien verschwiegen wird. Das Video, so der Spiegel, sei seit mehreren Tagen auf Telegram im Umlauf und jetzt von der New York Times verifiziert worden. Es zeige die Hinrichtung eines russischen Soldaten durch ukrainische Kämpfer nahe Dmytrivka, einem kleinen Ort nur wenige Kilometer von Butscha entfernt.

In dem Clip ist der New York Times zufolge der russische Soldat mit einer über den Kopf gezogenen Jacke zu sehen – offenkundig verwundet, aber noch atmend. Eine Männerstime sei zu hören, die sagt: „Der lebt noch. Filme diesen Plünderer. Schau, der lebt noch. Er schnappt nach Luft.“ Daraufhin schieße einer der Männer zweimal auf den am Boden liegenden Soldaten. Weil dieser sich noch regt, schießt er ein drittes Mal. Der Soldat zuckt anschließend nicht mehr. Auf dem Video seien drei weitere russische Soldaten zu sehen, in Blutlachen liegend, einer mit einer Kopfwunde und mit auf dem Rücken gefesselten Händen.

Die New York Times schreibt, die ukrainischen Soldaten seien anhand ihrer Flaggenaufnäher und ihrer blauen Armbinden zu identifizieren. Mehrfach sei in dem Video der Ruf „Ruhm der Ukraine!“ zu hören. Die toten Russen trügen die in der Armee üblichen Tarnuniformen sowie weiße Armbinden. Laut der Zeitung liegen die Leichen neben einem Infanterie-Kampfwagen vom Typ BMD-2, wie ihn die Luftlandetruppen benutzen. Wenn sich der Vorfall so abgespielt hat, handelt es sich bei der Hinrichtung von gefangenen Soldaten ebenfalls um ein Kriegsverbrechen.

An dieser Stelle soll jetzt nicht eine Untat gegen die andere aufgerechnet werden; schließlich weiß man, daß in jedem Krieg das erste Opfer die Wahrheit ist. Auch hat sich die grundsätzliche Schuldfrage durch den Überfall auf ein Nachbarland und die völkerrechtswidrige Verletzung seiner Souveränität und territorialen Integrität von selbst beantwortet. Nein, hier und jetzt geht es darum, ob der oben geschilderte Vorfall verschwiegen wird, um ja keinen Schatten auf die Glorifizierung und Heroisierung des ukrainischen Widerstands fallen zu lassen und die Dämonisierung der russischen Aggressoren desto ungestörter fortsetzen zu können.

Sollte dies der Fall sein, handelt es sich um einen handfesten Skandal, der das ohnehin ramponierte Vertrauen in die neutrale Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen und der privaten „Qualitätsmedien“ einmal mehr erschüttern würde. Es wäre ein weiteres Beispiel für die freiwillige Gleichschaltung, die als Haltungsjournalismus seit dem Beginn des am 4. Oktober 2000 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgerufenen „Kampfes gegen Rechts“ in den meisten Redaktionen praktiziert wird.

Zum Glück finden sich zum Ukrainekrieg in den Gazetten hin und wieder Leserbriefe mit dem Appell, dem moralistischen Trommelfeuer endlich Einhalt zu gebieten und zur Besinnung zu kommen. Der zum Helden stilisierte Präsident Selenskyj wird von manchen Lesern als „rücksichtsloser Egomane“ kritisiert, der sein Volk für ein vermeintliches Recht auf Selbstbestimmung opfere. Andere weisen darauf hin, daß Gas-Lieferungen in die EU für Kiew auch jetzt noch akzeptabel seien, sofern sie durch ukrainische Pipelines stattfinden und Kiew daran verdient.

Wieder andere erinnern daran, daß vor dem Krieg die Korruption in der Ukraine extrem hoch gewesen sei und die Staatsorgane im Rahmen von Beziehungsgeflechten zur Durchsetzung der Interessen von kriminellen Clans mißbraucht worden seien. An die deutschen Regierungsmitglieder wird daher appelliert, sich nicht zum Erfüllungsgehilfen ukrainischer Forderungen zu machen, sondern eingedenk des geleisteten Amtseids zum „Wohl des deutschen Volkes“ zu handeln.

In diesem Zusammenhang ist interessant, daß die SZ im Rahmen einer Recherche über die Luxusvillen und Yachten russischer Oligarchen auch auf Wolodimir Selenskyj gestoßen ist. Der heute auf allen TV-Kanälen präsente Staatschef soll vor vier Jahren für 4,5 Millionen Euro eine Villa in Forte dei Marmi an der toskanischen Küste gekauft haben – „er war ja früher ein erfolgreicher Komiker“, erklärte die Süddeutsche in ihrem Bericht vom 26. März. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, möchte man hinzufügen.

„Euer Kampf ist unser Kampf!“ (Ursula von der Leyen am 8. April in Kiew): Angefeuert vom Westen und vollgepumpt mit Waffen und Geld von den USA (bis heute 1,7 Milliarden Dollar) und der EU (1,5 Milliarden Euro), wird der Krieg auf unabsehbare Zeit verlängert. Der Blutzoll steigt, die ukrainischen Städte versinken in Schutt und Asche, die Geberländer – an vorderster Front Deutschland – häufen riesige Schuldenberge auf. Wie zu Zeiten des 1989/1990 zu Ende gegangenen Ost-West-Konflikts tobt wieder ein Stellvertreterkrieg, doch diesmal vor der eigenen Haustür, und niemand weiß, wie und wann er enden wird…

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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