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Bild: iStock - daseugen

Die zwei Wege der Demokratie

14. April 2023
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Wie stets zu Ostern ließen die bundesdeutschen Gazetten auch in diesem Jahr ihre Leser nicht im Stich: „Jetzt ist die Zeit, zu hoffen!“ Angesichts der Auferstehung Christi ermunterte Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der EKD, Gläubige und Ungläubige zu Optimismus und Zuversicht – trotz allem. In einem ganzseitigen Interview für die rund sechzig Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) zeichnete die Repräsentantin der auf knapp 20 Millionen Mitglieder geschrumpften Evangelischen Kirche ein düsteres Bild. In vielen Bereichen des täglichen Lebens nahm die Theologin eine „Endzeitstimmung“ wahr: Es gehe zu Ende mit der Art, wie wir gewohnt sind zu leben; es gehe zu Ende mit den natürlichen Lebensgrundlagen; es gehe zu Ende mit unserem Wohlstand; es gehe zu Ende mit der Sicherheit, wir könnten in Europa in Frieden leben. Bei immer mehr Menschen sinke der Toleranzspiegel und das Vertrauen in Demokratie und demokratische Institutionen.

Die Kirchenobere hat recht. Die krisenhaften Zeichen mehren sich von Jahr zu Jahr. Doch nur wenige Bundesbürger dürften wie Annette Kurschus Trost im Glauben finden: „Ostern läßt mich hoffen – auch in aussichtslosester Lage kann sich das Blatt noch einmal wenden“ (Märkische Allgemeine Zeitung, 6./7. April 2023). Im vereinten Deutschland hat sich aus der einstigen „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) längst wieder eine Klassengesellschaft mit einer stets größer werdenden Unterschicht entwickelt; in den Abstiegsstrudel drohen auch immer mehr Angehörige des arrivierten Mittelstands und der Akademikerschicht zu geraten. Diese ökonomischen und sozialen Verwerfungen, potenziert durch jahrzehntelange und bis heute regellose Zuwanderung in die Wohlfahrtssysteme und durch dramatische demographische Veränderungen, haben die öffentlichen Haushalte Ende 2022 mit einer Rekordverschuldung von bald 2,5 Billionen Euro an den Rand des Staatsbankrotts geführt. Pro Kopf ist jeder Bürger jetzt mit 28.155 Euro verschuldet, dem höchsten Betrag seit Bestehen der Bundesrepublik.

Während die Westdeutschen die parlamentarische Demokratie in den fünfziger und sechziger Jahren parallel zum „Wirtschaftswunder“ erlebten und sie somit als eine Staatsform erfuhren, die ihre Lebenssituation stetig verbesserte, erging es den Mitteldeutschen Jahrzehnte später genau umgekehrt. Für sie war der Einzug der Demokratie begleitet von wachsender Arbeitslosigkeit und sozialer Degradierung. So wie im Westen die Enttäuschung darüber, daß die „freie und soziale Marktwirtschaft“ schon lange nicht mehr hält, was sie versprochen hat, dem politischen System angelastet wird, so ist es auch im Osten: Der Block der Nichtwähler wird ständig größer, die Volksparteien schrumpfen auf Werte zwischen 20 und höchstens 30 Prozent, Protestparteien erhalten Zulauf. Damit aber stellt sich nicht nur für die Wirtschafts- und Sozialordnung, sondern auch für die Politik die Systemfrage, denn eine bis dahin für unumstößlich gehaltene Wahrheit hat sich als Lebenslüge entlarvt: daß Demokratie Voraussetzung und Garant für ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritt ist.

Von Aristoteles über Giambattista Vico bis Alexis de Tocqueville ist immer wieder auf die entscheidende Schwachstelle eines Denkens hingewiesen worden, das in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen das Mehrheitsprinzip zur Geltung bringen will. Der Kern der Kritik an der Herrschaft der größten Zahl bleibt dabei stets derselbe:

„Was den großen Geistern die Gesellschaft verleidet, ist die Gleichheit der Rechte bei der Ungleichheit der Fähigkeiten.“

Schopenhauer

Wo das Mittelmaß regiert, kann sich das Große nur schwer, wenn überhaupt, durchsetzen; wo das Große sich zu erheben wagt, wird es zurechtgestutzt.

In Zeiten innerer und äußerer Ruhe mag ein Land relativ gut mit den Prinzipien der Demokratie fahren, gleichwohl sollte es zu denken geben, daß Deutschland – BRD und DDR zusammengenommen – nach 1945, also in fast acht Jahrzehnten, lediglich zwei Staatsmänner hervorgebracht hat: Konrad Adenauer und Helmut Schmidt. Allenfalls staatsmännische Momente mag man Willy Brandt (Berlin-Krise 1961, Ostpolitik) und Helmut Kohl (Wiedervereinigung) attestieren. In der Berliner Republik ist indes noch niemand aufgetreten, der das Format eines jener Politiker hätte.

Ist die in Westdeutschland gewachsene Parteiendemokratie mit ihrem Klüngel- und Proporzwesen außerstande, politische Talente heranzuziehen? Offensichtlich. In Parlamenten, die in keiner Weise die Lebenswirklichkeit des Volkes widerspiegeln, sitzen mehrheitlich Beamte und Funktionäre. Und unter den jungen Leuten ist es Praxis, sofort nach dem Studium, ohne je einen Beruf ausgeübt zu haben, über Listenplätze ins politische „Geschäft“ einzusteigen; sie leben, um ein Wort Max Webers zu zitieren, statt für die Politik von der Politik. Kein Wunder, daß angesichts  einer derartigen classe politique das Land weit unter den Erfordernissen des Tages regiert wird.


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Zu den subjektiven Schwächen kommen die objektiven Mängel des Systems: So steht der Regierung nicht das Parlament als Kontrolleur gegenüber, sondern die jeweilige Mehrheit stellt die Regierung, so daß die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive aufgehoben ist. Auch das Verhältniswahlrecht, das klare Mehrheiten verhindert, sowie das Fehlen plebiszitärer Elemente auf Bundesebene haben ebenso wie der wuchernde Parteienstaat der Demokratie in Deutschland schweren Schaden zugefügt. Hinzu kommt ein exzessiver Föderalismus, der das Bildungssystem ruiniert hat und statt einer Bestenauslese nahezu jedem zweiten ein Hochschulstudium ermöglicht.

Seit langem schon steht sich in fast allen demokratisch regierten Ländern des Westens die Bevölkerung in zwei Blöcken gegenüber, die man, wie vereinfachend auch immer, als „linkes“ und als „rechtes“ Lager in jeweils allen Schattierungen von gemäßigt bis radikal bezeichnen kann. Zwischen diesen Lagern wird – mal leiser, mal lauter – ein Bürgerkrieg ausgefochten, der sich in ruhigen Zeiten auf geistiger Ebene abspielt. Doch das Klima wird desto erhitzter, je krisenhafter sich das Geschehen in Wirtschaft und Politik zuspitzt. Versagen die Kräfte der demokratischen Mitte bei der Bewältigung der Probleme, dann suchen sich die Probleme Ihre eigene Lösung, denn im Schoß jeder Demokratie schlummern zwei Alternativen, die sich in ihrer Radikalität in nichts nachstehen.

Die eine Alternative deutete Adolf Hitler an, als er am 27. Januar 1932 in einer Rede vor dem Düsseldorfer Industrieklub erklärte:

„Das Privateigentum ist nur dann moralisch und ethisch zu rechtfertigen, wenn ich annehme, daß die Leistungen der Menschen verschieden sind. Dies zugegeben, ist es jedoch Wahnsinn zu sagen: Auf wirtschaftlichem Gebiet sind unbedingt Wertunterschiede vorhanden, auf politischem Gebiet aber nicht! Es ist ein Widersinn, wirtschaftlich das Leben auf dem Gedanken der Leistung, des Persönlichkeitswertes, damit praktisch auf der Autorität der Persönlichkeit aufzubauen, politisch aber diese Autorität der Persönlichkeit zu leugnen und das Gesetz der größeren Zahl, die Demokratie, an dessen Stelle zu schieben. Der politischen Demokratie analog ist auf wirtschaftlichem Gebiet aber der Kommunismus.“

Die faschistische Lösung ist somit die Übertragung des in Wirtschaft und Gesellschaft herrschenden Prinzips der Autorität der Persönlichkeit auch auf die politische Ebene, mithin der Führerstaat. Während das Privateigentum, staatlich reguliert und kommandiert, in diesem Modell weiterexistiert, soll die Bevölkerung durch den Appell an das Nationale jegliches Klassenbewußtsein und allen Standesdünkel überwinden, um in einer homogenen „Volksgemeinschaft“ aufzugehen. Diesem Konzept eines „nationalen Sozialismus“ steht die andere kollektivistische Alternative gegenüber. Sie beruht auf der Übertragung des demokratischen Prinzips der Regierungsform auch auf die Wirtschaft und alle anderen Bereiche, bis im Namen der Gleichheit die privaten Einzelinteressen in einer an einem fiktiven Gemeinwohl orientierten „klassenlosen Gesellschaft“ aufgehen.

Daß sich Deutschland im Gegensatz zu vielen EU-Staaten (so die skandinavischen Länder sowie Italien, Holland, Ungarn und Frankreich) auf dem zweiten Weg befindet, resultiert aus der „Vorarbeit“ der 68er. Durch Politisierung und Vergesellschaftung alles Privaten haben sie nicht nur Werte wie Autorität, Disziplin, Fleiß, Pflicht etc. in Frage gestellt, sondern den Weg bereitet für die heutige Atomisierung der Bevölkerung durch Bevormundung in sprachlicher, biologischer und klimapolitischer Hinsicht. Aus dem deutschen Staatsvolk, pro forma nach wie vor der Souverän des Landes, ist längst eine amorphe Masse unpolitischer Individuen geworden.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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