Erkenne dich selbst – vielzitierte Inschrift am Tempel des Apollon in Delphi, Leitgedanke des Sonnenwolfs, Mahnung an der Pforte vieler Freimaurertempel – und auch in Ernst Jüngers Waldgang: nicht “Volk stehe auf!”, sondern “Erkenne dich selbst!”. Die Freimaurer wurden von den Nationalsozialisten verboten, der jüngersche Waldgänger steht sprachbildlich für den vom Leviathan ungebrochenen Einzelnen und der Sonnenwolf wandert frei im Rudel während die Propagandamaschinerie “Wir bleiben zuhause!” schreit.
Erkenne dich selbst – vielleicht die größte Konstante im Geiste aller Individualisten. Warum? Warum streben wir nach individueller Selbsterkenntnis statt nach kollektiver Ablenkung? Weil Selbsterkenntnis die Antworten auf zwei essentielle Fragen des Lebens liefert:
1.) Wie ist dauerhaft glückliches Leben möglich, wie muss ich mich verhalten?
2.) Wie funktioniert die Welt, was sind die Prinzipien des Universums?
Beide Fragen sind untrennbar miteinander verbunden. Da wir Teil des Universums sind, können wir nur dauerhaft glücklich leben, wenn wir im Einklang statt im Konflikt mit ihm leben. Und glücklich und zufrieden leben, das wollen wir alle. Deswegen stellt sich jeder Mensch – im Regelfall unbewusst – ständig diese beiden Fragen, fast immer übertragen auf sein konkretes Alltagsleben: Was muss ich machen, damit ich glücklich bin und wie funktioniert das, was ich machen muss?
Beispiel: “Wäre ich nicht glücklicher, wenn ich weniger arbeiten müsste? Bestimmt! Ich muss mehr Zeit für mich und meine Interessen haben, um glücklicher zu werden; und um mehr Zeit für mich zu bekommen, muss ich finanziell unabhängig werden, damit ich nicht mehr arbeiten gehen muss. Wie funktioniert es also, finanziell unabhängig zu werden?”
Hier haben wir die gleichen beiden Fragen, angewandt bzw. übertragen auf unsere Lebenswirklichkeit. Wir fragen uns zuerst, wie wir unser Glück mehren (und unser Leid mindern) können und fragen uns dann, wie wir das in unserem kleinen Mikrokosmos innerhalb des Universums erreichen können.
Jede Religion, jede Philosophie, jedes spirituelle System beschäftigt sich mit diesen beiden Fragen – und jeder Mensch ebenfalls. Und doch bezeichnet sich nur ein Bruchteil der Menschen als religiös, philosophisch oder spirituell. Woher kommt diese offenkundige Diskrepanz?
Daher, dass alle Religionen, alle Philosophien und alle spirituellen Systeme sich innerhalb ihrer jeweiligen Verpackung, innerhalb ihres spezifischen Gewandes, mit diesen beiden essentiellen Fragen beschäftigen – und eben diese Verpackungen viele Menschen abschrecken. Das ändert jedoch absolut nichts daran, dass sich jeder Mensch sein ganzes Leben lang mit diesen beiden Fragen beschäftigt.
Das Spiel des Lebens ist das Streben nach Glück in einer Welt knapper Güter (siehe Odin, Nietzsche und der Pfad zur linken Hand), stets streben wir nach Glück und stets wird unser Leben von der Knappheit bestimmter Ressourcen tangiert. Daher sind beide Fragen essentieller Teil des Lebens; immer wollen wir irgendetwas und immer fragen wir uns, wie wir bekommen können, was wir wollen. Und genauso ist das Selbst untrennbar mit dem Leben – und somit mit beiden Fragen – verbunden. Denn wer lebt? Das Selbst lebt – und wer lebt, stellt sich beide Fragen.
Wer wissen will, was ihn glücklich macht, der muss sich selbst verstehen. Das ist Selbsterkenntnis. Und wer wissen will, wie das, was ihn glücklich macht, funktioniert, der muss die Welt verstehen. Und wer die Welt verstehen will, der muss zuallererst seine Wahrnehmung der Welt verstehen – denn es ist ausschließlich seine Wahrnehmung, mit der er die Welt und ihre Funktionsweise untersuchen kann. Und seine eigene Wahrnehmung zu verstehen, das ist Selbsterkenntnis. Deswegen ist die Antwort auf beide großen Fragen des Lebens immer die gleiche: Erkenne dich selbst!
Erkenne, was dich glücklich macht und erkenne, wie du es erreichen kannst – und wie du es erreichen kannst, das hängt vom Wechselspiel zwischen dir und der Welt ab. Das Wechselspiel zwischen dir und der Welt zu verstehen, das bedeutet zu verstehen, wie du die Welt und die Welt dich beeinflusst. Damit du das verstehen kannst, musst du verstehen, wie deine Wahrnehmung und dein Geist funktionieren – denn deine Wahrnehmung und dein Geist sind die Filter, durch die du deine Erfahrung machst.
Mit Erfahrung meine ich die Summe aller äußeren und inneren Wahrnehmungen. Äußere Wahrnehmungen sind solche, die du mittels deiner fünf Sinne in bzw. von der Welt machst: Du siehst, hörst, schmeckst, fühlst und riechst die Außenwelt. Innere Wahrnehmungen hingegen sind deine Gedanken, Gefühle, Impulse, Erinnerungen etc. – also geistige Aktivitäten.
Beides zusammen – Außenwelt und Innenwelt – tritt in deinem Bewusstsein auf. Du bist dir sowohl physischer Objekte wie auch psychischer Objekte bewusst: Du nimmst mit deinen fünf Sinnen die Außenwelt nicht nur wahr, sondern du weisst auch, dass du sie wahrnimmst – und du nimmst deine Gedanken und Gefühle nicht nur wahr, sondern du weisst auch, dass du sie denkst und fühlst. Du bist dir deiner Erfahrung bewusst.
Und deine Erfahrung, die ändert sich fortlaufend. Deine Erfahrung als Kleinkind war anders als die als Teenager. Deine Erfahrung heute ist anders als deine gestrige. Und morgen und in zehn Jahren wird deine Erfahrung wieder eine andere sein. Deine Erfahrung kommt und geht – aber du bleibst. Immer bist es du, der deine Erfahrung macht: Du nimmst deine Wahrnehmung von der Außenwelt wahr und du nimmst deine Wahrnehmung deiner Innenwelt wahr.
Diese Wahrnehmungen ändern sich kontinuierlich: Als Kleinkind war dein Geist noch nicht so entwickelt wie heute, entsprechend hattest du ganz andere Gedanken und Gefühle als heute. Und wenn du alt und grau bist, wird sich dein Geist wieder verändert haben und du wirst wieder anders denken und fühlen. Genauso auch dein Körper: Der war als Kind anders als heute und wird in 20 Jahren wieder anders sein.
Die Welt, deine Erfahrung, dein Körper, alles ändert sich fortlaufend. Und doch bist es immer du, der deine Welt, deine Erfahrung und deinen Körper wahrnimmt. Präziser: Alles was du von der Welt, von deinem Körper und von deinem Geist wissen kannst, ist deine Erfahrung – die Summe all deiner Wahrnehmungen. Deine Erfahrung ändert sich kontinuierlich – aber du bleibst.
Wenn das stimmt – und ich appelliere an dich, das gründlichst zu überprüfen – wer ist dann mit dem Appell “Erkenne dich selbst!” gemeint? Wer oder was ist das Selbst, das wir erkennen sollen? Wenn deine Erfahrung sich fortlaufend ändert, aber du immer du bist, wer bist du dann?
Jeder Tag besteht aus Wach- und Schlafphase. Die Schlafphase wiederum besteht aus Traum- und Tiefschlafphase. In der Wachphase machen wir Erfahrung: Wie agieren in und mit der Außenwelt und haben Gedanken und Gefühle. In der Traumschlafphase machen wir auch Erfahrung: Unser Geist räumt sich mittels Träumen selbst auf – wir machen Traumerfahrungen, wir nehmen unsere Träume wahr (und können uns manchmal auch detailliert an sie erinnern).
Aber in der Tiefschlafphase, machen wir da Erfahrung? Nein, und eben deshalb ist es diese Schlafphase, die für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden am wichtigsten ist. Wir können Albträume haben, aber wir können keinen unangenehmen Tiefschlaf haben. Tiefschlaf ist pure Erholung.
Wenn das stimmt – und ich appelliere erneut an dich, das gründlichst zu überprüfen – durchleben wir jeden Tag eine Phase ohne Erfahrung. Und was sind wir ohne Erfahrung, ohne Wahrnehmung? Leeres Bewusstsein. Bewusstsein ohne Inhalt. Der Wahrnehmer deiner Erfahrung, der temporär nichts wahrnimmt. Eine Lokalisierung von Bewusstsein
, in der während der Tiefschlafphase keine Erfahrung auftritt. Erkenne dich selbst ist ein Appell auf mindestens zwei Ebenen: Wer bin ich in meiner Wachphase und wer bin ich wirklich?
In unser Wachphase haben wir eine Persönlichkeit – vom lateinischen Persona, was für Maske, Rolle und Charakter steht. Wie sich dieser Charakter im Spiel des Lebens verhält, das hängt vor allem von seinen Glaubenssätzen und seinem tiefenpsychologischen Selbst ab. Mit dem Begriff Selbst bezeichnete Carl Gustav Jung die Gesamtheit der menschlichen Psyche, inklusive des Egos und der Archetypen. Sich auf dieser Ebene besser zu verstehen – psychologische Selbsterkenntnis – kann sich sehr positiv auf unsere Lebensqualität auswirken. Doch gleichzeitig: Was ist unsere Psyche?
Die Aktivität, das Programm, unseres Geistes – ein Sammelsurium von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Impulsen und Intuitionen. Und in was tritt unsere Psyche auf? In unserem Bewusstsein. Alles, was wir von unserer Psyche wissen können, ist Wahrnehmung – womit wir wieder bei dem Selbst, bei dem Ich, bei dem Du angekommen sind, das immer konstant bleibt.
Unsere Persönlichkeit ändert sich im Laufe der Jahre. Wir spielen als Kind andere Rollen als mit 15 oder mit 30 oder mit 90 Jahren. Wir tragen im Laufe unseres Lebens unterschiedliche Masken, doch wir bleiben immer der gleiche Schauspieler. Das ist die letzte Ebene der Selbsterkenntnis: Ich bin der Wahrnehmer meiner Erfahrung, aber ich bin nicht meine Erfahrung; ich bleibe immer ich, auch im Tiefschlaf, in Abwesenheit aller Erfahrung. Dieses immer konstante Selbst oder Ich, diese Lokalisierung von Bewusstsein ohne jede Maske, das ist unsere Essenz – und es ist diese Essenz, auf die Selbsterkenntnis letztendlich abzielt.
Denn sobald ich verstanden und verinnerlicht habe, dass ich immer ich bleibe, ganz gleich welche Erfahrung ich mache oder nicht mache, wovor soll ich dann noch Angst haben? Und was soll mich dann von immer mehr Erkenntnis, Wachstum und Glück abhalten?
Derjenige, der sein essentielles Selbst erkannt hat, verliert im Laufe der Zeit all seine Ängste und entledigt sich dadurch auch der Tyrannei seines Egos. Das bedeutet nicht, dass er kein Ego mehr hat, er lässt sich jedoch nicht mehr von ihm kontrollieren. Stattdessen lebt er aufrichtig gemäß seiner wahren Überzeugungen und bringt in die Welt, was er in der Welt sehen will.
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