Ich verehre Johann Sebastian Bach. Seine Musik hat mich wie die keines Zweiten in den 25 Jahren meines Lebens beeinflusst, ich höre und spiele sie (fast) täglich, und sogar den ersten Netzartikel hier bei der KRAUTZONE habe ich vor etwas mehr als vier Jahren dem Leben des großen Komponisten gewidmet. Umso mehr habe ich mich auf den Film gefreut, den die ARD in diesem Jahr über Bach produziert hatte – oder genauer gesagt: über die Entstehung eines seiner bedeutendsten Werke, das aus sechs einzelnen Kantaten zusammengesetzte Weihnachtsoratorium. Das erste Mal zum Erklingen gebracht wurde es in sechs Gottesdiensten zwischen dem 1. Weihnachtsfeiertag 1734 (das Werk feiert also in diesem Jahre das 290. Jubiläum seiner Uraufführung) und dem 6. Januar des Folgejahres.
Heutzutage hat sich die Aufführung des WO (wie es unter Musikern üblicherweise abgekürzt wird) von den von Bach angedachten Weihnachtstagen auf die Adventszeit verlegt – eine, wie ich finde, unschöne Tradition, da sie Teil der Verwischung und Vermischung von Advents- und Weihnachtszeit ist, über die ich mich bereits vor zwei Jahren beschwert habe. Dabei werden in den Konzerten meistens die Kantaten 1 bis 3 oder 4 bis 6 gespielt; eher selten findet eine Gesamtaufführung des Werkes statt, die ca. drei Stunden in Anspruch nehmen würde.
Aber nun zum Film: Ich setzte mich also gleichzeitig mit Vorfreude, aber auch Skepsis, an den Laptop, öffnete die ARD-Mediathek und schaute mir das 90-minütige Machwerk an, nur um am Ende feststellen zu müssen: Die Skepsis war vollkommen berechtigt, hatte er doch fast genau die Schwächen, die ich bereits erwartet hatte. Zur Handlung: Wenige Tage vor Weihnachten 1734 möchte Bach sein Weihnachtsoratorium vollenden, dessen Aufführung den Bach und seiner Musik feindlich gesinnten Leipziger Rat überzeugen soll, dass seine „opernhaften“ (d. h. zu dramatischen, vom Gotteswort ablenkenden) Werke es wert sind, in den Leipziger Kirchen aufgeführt zu werden.
Während der Patriarch am Komponieren ist, kommt zum Weihnachtsfest der gesamte Bach-Clan zusammen, darunter der Lieblingssohn des Meisters, Wilhelm Friedemann, und der mit dem Vater zerstrittene Carl Philipp Emanuel, der lediglich auf Bitten seiner Stiefmutter, Bachs zweiter Ehefrau Anna Magdalena (mit der Emanuel ebenfalls kein gutes Verhältnis hat), in Leipzig eintrifft. Als wäre dieser Familienzwist nicht genug, kommen einige weitere größere wie kleinere Probleme zusammen: Tochter Elisabeth kann nur mit Mühe einen Weihnachtsbaum für daheim finden, die finanziellen Sorgen der Familie werden beleuchtet, Anna Magdalena ist erneut schwanger, nachdem sie bereits sieben Kinder verloren hatte, und als filmischer Höhepunkt verschwindet der geistig zurückgebliebene Sohn Gottfried nach einem Streit spurlos in der Kälte.
Natürlich lösen sich alle Konflikte am Ende zum Guten hin auf: Der Weihnachtsbaum steht, den Bachs wird im Spätsommer 1735 ein gesunder Sohn geboren (Johann Christian Bach, der selbst ein berühmter Komponist werden sollte), Gottfried wird heil wieder nach Hause gebracht, nachdem sich Vater und Sohn Emanuel vertragen und ihn gemeinsam gefunden hatten, und schließlich wird, nachdem der Ratsherr Stieglitz, der Antagonist des Filmes, überzeugt wurde, das WO aufgeführt: Regelrecht kathartisch ertönt der Eingangschor „Jauchzet, frohlocket!“ An sich wäre das alles grenzwertig erträglicher Kitsch – wenn wir es nicht mit einer ARD-Produktion zu tun hätten.
Doch bevor ich zu den Kritikpunkten komme, möchte ich ein paar Sachen lobend hervorheben: Da wäre zum einen die Musik – also die historische von Bach wohlgemerkt. Das dafür verantwortliche Ensemble Continuum unter der Leitung von Elina Albach spielte für den Film lebendige, ja fast berauschende Musik aus dem WO ein, von der ich am liebsten mehr gehört hätte – gern auf Kosten der überkitschigen Klavierbearbeitungen Bach’scher Arien, wie man sie am Anfang des Filmes ertragen muss. Ich möchte fast sagen, dass Albachs Ensemble die Musik zu perfekt spielt, angesichts der historischen Umstände – so stand Bach leider nicht der Thomanerchor zur Verfügung, dessen Qualität heutzutage weltweit geschätzt wird.
Die Kostüme im Film sind ebenfalls überzeugend, hinzu kommen die Drehorte, die einen in eine schönere Welt zurückversetzen. Und dann die Schauspieler: Insbesondere Thorsten Merten als Stadtrat Stieglitz überzeugt mich sehr, auch Verena Altenberger gibt der Frau „Bachin“ viel Tiefe. Ja, gerade die Darstellung von Trauer und Schmerz einer Mutter, die in 13 Ehejahren zehn Kinder geboren hatte, sieben (!) von ihnen wieder hatte begraben müssen und letzten Endes trotzdem nicht aufgab, ist so plastisch, dass ich ergriffen war – einer der besten Aspekte des ganzen Films.
Dass Anna Magdalena weitaus mehr verkörpert als nur die treue Hausfrau, mag einem auf den ersten Blick vielleicht feministisch-modern erscheinen – es ist bestimmt auch so gemeint –, trifft aber dennoch die historische Realität: Wir befinden uns immerhin in den 1730ern, nicht in den 1950ern. Bei Devid Stresow in der Titelrolle bin ich mir nicht sicher: Er hat zweifelsohne keinen schlechten Job gemacht, dennoch reicht seine Darstellung nicht an diesen einzigartig herrisch-schnoddrigen und gleichzeitig demütig-bescheidenen Charakter heran, den Ulrich Thein dem Thomaskantor in den Bach-Filmen der DEFA von 1985 verleihen konnte.
Was also lief falsch beim neuen Bach-Film? Mit meinem KRAUTZONE-Kollegen Lambda kam ich in einem Video für das Format Konsequent Frei über die US-amerikanische Erfolgsserie „Game of Thrones“ zu dem Schluss, dass wir dort lediglich moderne Menschen in einem mittelalterlichen Setting sehen, jedoch keine mittelalterlichen Menschen – das heißt, wir haben dort moderne Amerikaner mit modernen Denkweisen in Kostümen betrachten dürfen, jedoch keine Menschen mit mittelalterlichem Weltbild.
Ein ähnliches Resümee hat auch der Schattenmacher in einem Videoessay über den Film „Gladiator“ gezogen, dessen Hauptfigur im Grunde genommen ein US-amerikanischer Familienvater ist. Und genau dasselbe lässt sich im neuen Bach-Film beobachten: So beschwert sich die Tochter Elisabeth in feministischer Manier, warum denn sie als Mädchen im Chor nicht mitsingen dürfe, wo sie doch eine schönere Stimme habe als die meisten Thomanerjungen. Mal davon abgesehen, ob ein 8-jähriges, im frühen 18. Jahrhundert geborenes und konservativ-lutherisch erzogenes Mädchen sich solche Gedanken gemacht hätte oder nicht – diese platt-belehrende Art und Weise, mit der mir die Filmemacher ihre Ideologie verkaufen möchten, macht mich bitterlich lachen.
Man verpasst im zeitgenössischen Film eben keine Gelegenheit, und sei sie so billig, den Zeitgeist in den Kopf des Zuschauers einzuhämmern. Dazu kommt der Konflikt zwischen Sohn Emanuel und Vater Bach, der ebenfalls für die feministische Sache ausgenutzt wird – schließlich, so sagt der Sohn, müsse auch der Vater mal für die Kinder (und nicht nur für die Musik) da sein und die Erziehung nicht allein seiner Frau überlassen. Das moderne, linksliberale Familienbild im 18. Jahrhundert? Dieser ahistorische Umstand schien auch dem Musikwissenschaftler Jan Brachmann, der den Film für die „FAZ“ rezensierte, aufgefallen zu sein.
Der vordergründige Streitpunkt zwischen Vater und Sohn ist jedoch die mangelnde Anerkennung des alten Bachs: Er respektiert es nicht, dass Emanuel nur auf Hochzeiten und anderen weltlichen Anlässen Musik mache und damit sein Talent verschleudere, anstatt richtige (also geistliche) Musik zu machen – wie etwa Sohn Friedemann, der eine Stelle als Organist in Dresden hat, die allerdings, anders als im Film dargestellt, nicht sonderlich gut bezahlt wurde. Wirklich schlüssig finde ich diesen Streitpunkt nicht, so haben sowohl Vater als auch Sohn jede Menge geistliche wie weltliche Musik geschaffen.
Viel interessanter hätte ich einen Generationskonflikt anderer Art gefunden, der sich an der Art und Weise entzündet, wie man Musik schreibt: Der Vater mit seiner schwülstigen, kontrapunktischen Musiktradition auf der einen Seite, auf der anderen Seite der Sohn mit einer leichten, melodiebetonten Musikästhetik. Das wäre auch hinsichtlich des Streites zwischen Bach und dem Rat interessant geworden! Am Ende jedenfalls versöhnen sich die beiden in einer fast demütigenden Entschuldigungsszene, in der der Vater den Sohn quasi anbetteln muss.
Auch die anderen Reibereien in der Familie hätten mehr Beachtung und Tiefe verdient. So ist z. B. das schwierige Verhältnis Emanuels zu seiner Stiefmutter belegt, jedoch werden die Hintergründe leider kaum beleuchtet – sei es die Trauer über Bachs erste Ehefrau Maria Barbara, die Mutter von Emanuel und Friedemann, oder, dass der Vater seine Aufmerksamkeit einer neuen Frau mit neuen Kindern widmete.
Mein eigentlicher Kritikpunkt betrifft aber den Hauptkonflikt des Filmes zwischen Bach und dem fiktiven Leipziger Ratsherren Stieglitz, der im Film Bachs reale Gegner in einer Person verkörpern soll. Zusammen mit einem nicht näher genannten, kleingeistigen Pfarrer wirft Stieglitz dem Thomaskantor Eitelkeit vor, stehe doch das gepredigte Wort über der Musik. Bach beharrt aber darauf, dass sein Oratorium die Herzen der Menschen für den Glauben öffnen könne. Gleichzeitig dient das Werk als Bewerbung für eine Stelle als „Hof-Compositeur“ am Dresdner Hof; und wie es der Zufall so will, kommt der Hofkapellmeister Johann Adolph Hasse aus dem Elbflorenz zu Besuch, um sich das WO anzuhören. Als der Rat von der Starrköpfigkeit seines Thomaskantors genug hat und die Aufführung des Werkes verbietet, steht auch Bachs gesamtes Vorhaben vor dem Aus.
Nachdem ein Versuch von Emanuel und Anna Magdalena gescheitert ist, den Ratsherren umzustimmen, wird Stieglitz nur kurz vor knapp vom Gegenteil überzeugt – und ist beim Eingangschor des ersten Teils mit den anderen Zuhörern zu Tränen gerührt. Ein Happy End also, nur nach Dresden ist Bach nie gegangen – zwar erhielt er den Titel des „Hof-Compositeurs“, blieb jedoch in Leipzig.
Den Streit zwischen Rat und Bach gab es wirklich: Vertraglich war der Thomaskantor daran gebunden, keine „opernhafte“ Musik in den Leipziger Kirchen aufzuführen – das bekam er vor allem nach der Aufführung der Matthäuspassion zu spüren, für die er nie entlohnt wurde. Doch lag der eigentliche Grund für den Konflikt nicht etwa in der Kleingeistigkeit der Leipziger Stadtherren – das wäre eine viel zu einfache Erklärung –, sondern in der Zeit selbst. In den 20er- und 30er-Jahren des 18. Jahrhunderts begann sich eine neue Art von Musik zu entwickeln: Der „Empfindsame Stil“ war auf dem Vormarsch. Das heißt konkret: Hinfort mit dem alten, kontrapunktischen, schwülstigen Gedudel der vergangenen Jahrzehnte, her mit einer kantablen (also singbaren), melodiebetonten, entwirrten Musik.
Viele von Bachs Zeitgenossen folgten diesem neuen Stil, und auch seine Söhne komponierten solche Art von Musik. In Leipzig hätte man den neuen Stil auch gern gehört (Emanuel Bachs Musik wäre da sicher gut angekommen!), doch Johann Sebastian Bach war da anders: Obwohl sich auch in seinem Werk Elemente eines empfindsamen Stiles finden lassen, war er doch der kontrapunktischen, vielstimmigen, undurchdringlichen Tradition verhaftet – sehr zum Ärger vieler seiner Leipziger Mitbürger.
So schrieb 1737 einer der berühmtesten Kritiker Bachs, der Komponist Johann Adolph Scheibe, respektvoll, aber deutlich:
„Dieser große Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen sein, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge und ihre Schönheit durch allzu große Kunst verdunkelte. Weil er nach seinen Fingern urteilt, so sind seine Stücke überaus schwer zu spielen; denn er verlangt die Sänger und Instrumentalisten sollen durch ihre Kehle und Instrumente eben das machen, was er auf dem Klavier spielen kann. Dieses aber ist unmöglich. […] man bewundert […] die beschwerliche Arbeit und eine ausnehmende Mühe, die doch vergebens angewandt ist, weil sie wider die Vernunft streitet.“
Darum ging es nämlich: „Klarheit“ – und die findet man bei Bach’scher Musik, zumindest beim ersten Mal hören, häufig vergebens. Und was meinte Scheibe eigentlich damit, dass Bachs „Arbeit […] wider die Vernunft“ streite? Nun, nicht aufklärerisch genug war sie, bzw. sogar antiaufklärerisch! Denn der empfindsame Stil stand auch ganz im Sinne der Aufklärung: Die singbaren, klaren Melodien sollten die Vernunft des Menschen ansprechen, während das Alte für das Unaufgeklärte, Irrationale stand. Gleichzeitig gab es auch in den theologischen Vorstellungen des Luthertums Neuerungen: Der Pietismus hielt langsam Einzug, der einer zu emotionalen Kirchenmusik nicht wohlgesonnen war, da diese vom Wort ablenke und zu fleischlich, zu luxuriös, zu weltlich sei – ähnlich wie beim Calvinismus oder bei vielen reformierten Strömungen in den USA, wo in so mancher Kirche die (weltliche) Musik nach wie vor als teuflische Versuchung gilt.
Johann Sebastian muss all diesen Entwicklungen sehr kritisch, wenn nicht gar ablehnend gegenübergestanden haben. So wissen wir aus Eintragungen, die er in die theologischen Bücher seiner Privatbibliothek machte, dass er ein zutiefst gläubiger, lutherisch-orthodox („orthodox“ heißt in diesem Kontext: der konservativen, lutherischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts folgend) erzogener Christ war – und diese Vorstellung des Christentums brachte er mithilfe seiner Musik zum Ausdruck. Bach hat es selbst einmal niedergeschrieben:
„Endlich soll auch die Endursache aller Musik […] seyn nichts anderes als nur Gottes Ehre und Recreation des Gemüths; wo dies nicht in Acht genommen ist, das ist keine recht eigentliche Musik.“
Eines der wenigen wörtlichen Zitate übrigens, die von ihm überliefert sind. So hat der Film-Bach schon recht, wenn er gegenüber seinen Gegnern sagt, dass seine Musik Gott zur Ehr und dem Worte zur Verkündigung geschrieben wird – aber eben nicht aus einer progressiven Haltung heraus. Dass man den Helden eines ARD-Filmes nicht als tiefreligiösen Antiaufklärer zeichnen kann, liegt auf der Hand (auch wenn ich es ja so machen würde…), dennoch hätte man den Charakter Bachs (und den seiner Gegner) nicht so abflachen müssen, wie man es letzten Endes getan hat.
Die Aufführung des WO stand außerdem nie zur Debatte, da Bach zwischen 1730 und 1734 eine recht einfache Zeit hatte: mit einem ihm wohlgesonnenen Rektor der Thomasschule und einem Bürgermeister, der zu seinen Fürsprechern zählte. Den Streit um das WO hat man also für den Film erfunden.
Die letztlich entscheidende Rolle zur Beilegung des Streites zwischen Bach und Ratsherr Stieglitz spielt der geistig behinderte Sohn Gottfried: Der fängt nämlich an, in Anwesenheit des Ratsherrn den Choral „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“ zu singen, woraufhin die ganze Familie mit einstimmt – und den gerührten Stieglitz dadurch überzeugt, die Aufführung des WO doch zu erlauben. Die Figur des Gottfried ist eines der größten Elemente unseres Zeitgeistes im Film: „Schaut her, wie inklusiv wir doch sind!“ – das ist die politisch korrekte Botschaft. Natürlich war der historische Gottfried untrennbarer Teil seiner Familie, so lebte er nach dem Tod der Eltern bei seiner Schwester Elisabeth. Doch dass er eine solch große Rolle in Bachs Wirken und Werken gespielt haben soll, ist ein Produkt moderner Inklusionsromantik. Den peinlichen Höhepunkt findet Gottfried dann ganz am Ende des Films, als er während des Gottesdienstes (!) zur Musik von Papa Bach durch das Kirchenschiff tänzelt. Rührselig in unserer Zeit, völlig undenkbar im 18. Jahrhundert. „Musste das jetzt sein?“, fragte ich mich in dem Moment mit verdrehten Augen.
So hatte man also die Chance, eine wirklich interessante und konfliktreiche Geschichte zu erzählen – und hat sie ordentlich versemmelt, um den flachen Ansprüchen unseres Zeitgeistes Tribut zu zollen. Sehr, sehr schade! Ich möchte an der Stelle noch einmal die DEFA-Filme über Bach aus dem Jahre 1985 zum Vergleich heranziehen: Als eine der aufwendigsten Produktionen der DDR waren auch diese Filme von damals zeitgenössischer Ideologie durchdrungen – so kämpft der teilweise sehr proletarisch anmutende Querulant Bach ganz in marxistisch-leninistischer Manier gegen den reaktionären Weimarer Fürsten oder die versnobte Leipziger Bourgeoisie –, und doch gibt man dem Zeitempfinden des 18. Jahrhunderts mehr Raum als in der Filmproduktion von heute.
Immerhin hatte die DDR das Glück, dass Johann Sebastian in seinem Habitus vermutlich wirklich eher „Bauerntrampel“ als Bildungsbürger war – auch wenn natürlich mit höfischen Gepflogenheiten vertraut – und daher dem Proletarier näherstand als dem Geisteswissenschaftler, wohl sehr zum Unmut heutiger Linksintellektueller. Bei den Figuren der DEFA-Filme jedenfalls hat man nie dauerhaft den Eindruck, modernen Menschen zuzuschauen – und das trotz schlechterer Kostüme, verfallender Bausubstanz im Hintergrund oder unhistorischer Aufführungspraxis –, während ich mich in den neuen Film trotz guter Musik und Kostüme nie völlig fallen lassen kann. Bezeichnend ist es, dass historische Figurenzeichnung und Weltanschauungsempfinden in einer DDR-Produktion doch freier gewesen zu sein scheinen, als es in einem Film des „besten Deutschlands aller Zeiten“ der Fall ist.
Wer so respektlos vom „kontrapunktischen, schwülstigen Gedudel“ schreibt und damit die Komponierweise des großen Bach meint — der benimmt sich einfach unangemessen und disqualifiziert sich selbst.
Und: Was immer du zu sagen hast, sag es kürzer, Friderico!
Der letzte Satz kam wie aus dem Nichts. Das muss man erstmal sacken lassen.