Die Franzosen waren im europäischen Vergleich stets bekannt für ihre besonders stark ausgeprägte Protestkultur. Nicht erst seit den Demonstrationen der Gelbwesten-Bewegung ist klar, dass die Zivilbevölkerung ihrer Regierung genau auf die Finger schaut und sich gegen unerwünschte Beschlüsse lautstark zur Wehr setzt. Anders als der eher konfliktscheue Bundesrepublikaner meckert der Franzose nicht zu Hause im stillen Kämmerlein herum, sondern trägt seinen Unmut nach draußen auf die Straße. So auch bei der aktuellen Debatte.
Seit einigen Wochen schon ist die Stimmung in Frankreich angespannt. Grund dafür ist die geplante Rentenreform des französischen Präsidenten. Denn, oh Wunder, ähnlich wie auch in Deutschland steht das Rentensystem kurz vor dem Kollaps. Schuld daran ist allem voran die demografische Entwicklung des Landes. Die Geburtenrate ist dort mit 1,8 Kindern pro Frau zwar noch etwas höher als in Deutschland, wo sie gerade einmal bei 1,53 liegt. Dennoch befindet sie sich seit dem Nachkriegsjahr 1946 auf einem historischen Tiefststand und trägt „mutmaßlich“ zusammen mit anhaltender Zuwanderung zur Instabilität der Rentenversicherung bei. Aktuell könnten die Renten nur noch durch Kredite ausgezahlt werden, so Macron.
Das soll sich zukünftig ändern, und zwar mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre bis spätestens 2030. „Wir müssen mehr arbeiten“, forderte Macron. Wen er mit „wir“ gemeint hat, blieb offen. Auch für wen oder was genau, hielt er eher schwammig. Frankreich ist beispielsweise nach Deutschland der zweitgrößte Nettozahler der EU mit 26,37 Milliarden Euronen (Stand 2021). Macrons geplante Gesetzesänderung jedenfalls versetzte landesweit sämtliche Teile der Bevölkerung in Aufruhr.
Doch damit nicht genug. Da Macron schon im Vorfeld davon ausging, dass seine Forderung nicht nur bei den Bürgern des Landes, sondern auch in der Nationalversammlung auf Widerspruch treffen würde, entschied er am Donnerstag, mit der Regierung die Reform ohne Zustimmung des Parlaments durchzubringen. Dabei berief er sich auf eine Sonderklausel in der Verfassung.
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Die ohnehin schon angeheizte Stimmung eskalierte daraufhin. Am Wochenende wurden bei Protesten in Paris 81 Personen vorübergehend festgenommen. In Nantes setzte die Polizei Tränengas gegen die Demonstranten ein. Sämtliche Gewerkschaften befinden sich aktuell im Streik. Schon seit Tagen wachsen in der Landeshauptstadt die Berge an Abfall, weil dieser nicht mehr abgeholt wird. Einige Demonstranten bauten Barrikaden aus brennenden Mülltonnen. Die Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) kündigte unterdessen an, die größte Raffinerie des Landes in der Normandie langsam herunterzufahren, nachdem sie zuvor schon Treibstofflieferanten blockiert hatte.
Die Opposition stellte gleich zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung, über die diese Woche in der Nationalversammlung abgestimmt wird. Der eine kam aus der Feder der liberalen Partei Liot in Kooperation mit dem linken Bündnis NUPES. Der zweite Misstrauensantrag folgte aus den Reihen des Rassemblement National. Sollten die Anträge eine absolute Mehrheit erreichen, müsste die Regierung zurücktreten, Macron jedoch nicht. Scheitern die Anträge, wovon nach aktuellem Stand auszugehen ist, tritt die Rentenreform in Kraft.
Im europäischen Vergleich ist das jetzige Rentenalter in Frankreich verhältnismäßig niedrig. Das Durchschnittsrenteneintrittsalter in der EU liegt beispielsweise bei 64,5 Jahren. Das Renteneintrittsalter in Deutschland hingegen ist schon jetzt auf 65,6 Jahre angezogen und soll auf 67 Jahre erhöht werden. Trotzdem blieb der Protest in der Bundesrepublik bis dato aus.
Was sich im Laufe der Woche in Frankreich ergibt, bleibt abzuwarten. Für Donnerstag sind erneut landesweite Proteste angekündigt. Dennoch zeigt sich, dass sich in mehreren europäischen Staaten die Protestkultur breitmacht, wenn auch aus unterschiedlichsten Gründen. In den Niederlanden beispielsweise erteilte der Bauern-Bürger-Bund den etablierten Parteien um Premier Mark Rutte erst vergangene Woche einen ordentlichen Denkzettel bei den Regionalwahlen. Es bleibt also spannend und unruhig.