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Freiheit oder Gleichheit

1. Juni 2021
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Vor jeder Bundestagswahl, so auch vor dieser am 26. September, müssen sich alle Parteien der ewigen Frage nach der „sozialen Gerechtigkeit“ stellen – Konservative und Liberale eher nolens als volens, Linke hingegen mit klassenkämpferischem Impetus, schließlich ist Gleichmacherei ihr Daseinszweck.

Daß im wiedervereinten Deutschland auch 2020 ein Prozent der Bevölkerung rund 35 Prozent des gesamten Vermögens besitzt, wird einmal mehr als Skandalon beklagt werden, ist aber ein Jahrzehnte alter soziologischer Gassenhauer: 1968 ermittelten die Professoren Wilhelm Krelle, Johann Schunck und Jürgen Siebke im Auftrag der Bonner Regierung, ausgehend von 1950, für das Jahr 1960, daß in Westdeutschland „17,6 Millionen Haushalten, das sind 98,3 Prozent aller Haushalte, nur jeweils 30 Prozent, das heißt weniger als ein Drittel des Betriebs- und des Kapitalvermögens, gehörten.“

Die haben mehr als wir

Die übrigen 305.000 oder 1,7 Prozent aller Haushalte, denen gut ein Drittel des Gesamtvermögens gehörte, besaßen dem Krelle-Report zufolge jeweils 70 Prozent des Betriebs- und Kapitalvermögens. Auf weniger als ein Prozent aller Haushalte entfielen mehr als ein Viertel des Betriebs- und 43,2 Prozent des gesamten privaten Kapitalvermögens.

An diesen Daten, und das ist eine der Lebenslügen der Bundesrepublik, hat sich im Lauf der Zeit wenig geändert. So konstatierte die Süddeutsche Zeitung 1975:

„Trotz aller Lohnsteigerungen hat sich die Vermögensverteilung nicht wesentlich verschoben. Dies liegt daran, daß die Inflation stets an den hohen Nominallohnsteigerungen zehrte, während sie die Besitzer von im Wert stark gestiegenem Produktivvermögen und Grundbesitz begünstigte.“

Wir wollen auch mehr haben

Und heute? 42 Jahre später schlug die Süddeutsche angesichts der weiter zunehmenden Ungleichheit vor, alle Bürger zu Miteigentümern der Unternehmen zu machen. Dann seien sie direkt an der Wertschöpfung der Maschinen beteiligt.

Gegenwärtig, so ein Leitartikler im Februar 2017, halte nur jeder zehnte Deutsche Aktien; bleibe das so (und es ist bis heute so), „dürfte die Ungleichheit explodieren“. Die vermeintliche Lösung des Problems hatte die SZ ihren Lesern bereits 1973 präsentiert: „Das kapitalistische System kann die Zukunft nur gewinnen, wenn es sich zum echten Volkskapitalismus mausert.“

Seinerzeit hatte der CDU-Politiker Rainer Barzel das scheinbar Unvereinbare auf die prägnante Formel gebracht: „Jeder Arbeiter ist Unternehmer; alles andere ist von gestern.“ Mitbestimmung, Gewinnbeteiligung und Vermögensbildung in Arbeitnehmer-Hand seien die freiheitliche Alternative zu Klassenkampf und Staatswirtschaft.

Bei diesen Ankündigungen ist es auch nach der Wiedervereinigung geblieben. Außer in der Montanindustrie kann in keinem Aufsichtsrat großer Unternehmen von einer Parität zwischen Kapital und Arbeit die Rede sein.

Eine Umverteilung des Zuwachses des Produktivvermögens ist nie über das Planungsstadium hinausgekommen, und ein nennenswertes Vermögen – ob mit betrieblicher oder staatlicher Hilfe – hat damals wie heute kein Arbeitnehmer bilden können.

Sollten sich Vertreter der ehemaligen Bonner Parteien am Klagelied von der sozialen Ungerechtigkeit beteiligen, muß man sie der Heuchelei zeihen, schließlich hatten sie sieben Jahrzehnte lang Gelegenheit, dem Übel abzuhelfen.

Das eine oder das andere, aber nicht beides

Dreh- und Angelpunkt auch in der Frage der „sozialen Gerechtigkeit“ ist die Dialektik von Freiheit und Gleichheit: Je freier eine Gesellschaft ist, je mehr Möglichkeiten sie dem Einzelnen gibt, seine je unterschiedlichen Begabungen zu entfalten, desto ungleicher wird sie.

Umgekehrt haben die gescheiterten Menschenexperimente des Sozialismus gezeigt, daß die Gesellschaft desto unfreier wird, zu je größerer Gleichheit ihre Mitglieder gezwungen werden. Dieses unausweichliche Dilemma hatte Goethe angesichts der französischen Revolution vorausgesehen und gewarnt: „Gesetzgeber und Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane.“

Während Freiheit, verstanden als gelebte Unterschiedlichkeit, der Natur nicht nur des Menschen entspricht, wird Gleichheit künstlich herbeigeführt. In der deutschen Verfassung ist sie als Gleichheit vor dem Gesetz eines der wesentlichen Grundrechte.

Es gilt für Männer wie für Frauen und zählt in Absatz 3 neben dem Geschlecht weitere Ungleichheiten auf, die vor dem Gesetz als gleich zu behandeln sind und deretwegen niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf: Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben sowie religiöse und politische Anschauungen.

Menschen sind nicht gleich

Die im zwischenmenschlichen Leben bedeutendste Ungleichheit hat der Gesetzgeber wohlweislich ausgelassen: die körperliche Ungleichheit (Aussehen, Kraft etc.) und, für nahezu alle Bereiche am wichtigsten, die geistige Ungleichheit.

In unserer auf Demokratie, Menschenwürde und Toleranz gegenüber allen möglichen Lebensstilen beruhenden Gesellschaft kommt es daher einem Sakrileg gleich, an Schopenhauers Diktum zu erinnern, die meisten Menschen seien bloß „Fabrikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt“.

Natürlich wird jeder, der Schopenhauers Urteil wiederholt, sofort der „Menschenfeindlichkeit“ und des „Sozialdarwinismus“ geziehen werden, denn im christlichen Abendland ist der Homo sapiens wegen angeblicher Ebenbildlichkeit mit Gott als „Krone der Schöpfung“ längst heiliggesprochen worden.

Doch es hilft nichts – da die Natur weder demokratisch noch fromm ist, kennt sie nicht einmal eine Seelen-Gleichheit, vielmehr hat sie „durch die höchst ungleichmäßige körperliche und geistige Begabung der Einzelnen Ungerechtigkeiten eingesetzt, gegen die es keine Abhilfe gibt“ (Sigmund Freud).

Naturgesetze gelten auch für den Sozialismus

Daher nimmt es nicht wunder, daß selbst glühende Verfechter der sozialen Gleichheit ganz selbstverständlich einer Hierarchisierung ihrer Zeitgenossen das Wort geredet haben. So pflegte Mao Zedong das Hinscheiden führender Genossen in bezug auf deren Verdienste für die Revolution mit dem altchinesischen Sprichwort zu kommentieren: „Der Tod des einen wiegt schwer wie der Tai-Berg, der Tod eines anderen wiegt weniger als Schwanenflaum.“

Und, angesprochen auf den bis heute in allen Gesellschaften zu beobachtenden Personenkult, meinte Chinas Premier Zhou Enlai Ende der siebziger Jahre, dieses Phänomen werde existieren, solange es das Bedürfnis gebe, zu verehren und verehrt zu werden – das heißt, solange es Persönlichkeiten gibt, die, auf welchem Gebiet auch immer, über das Mittelmaß hinausragen.

Ohne Hierarchisierung gäbe es schließlich keine Vorgesetzten und Untergebenen, keine Dirigenten, Chefredakteure oder Kapitäne von Fußballmannschaften.

Abschlussinflation dank Gleichheitswahn

Man sollte meinen, derartige Feststellungen seien ein
e Selbstverständlichkeit. Doch nicht nur Vulgär-Materialisten bestreiten die natürliche Ungleichheit. Seit der kulturellen 68er-Wende blenden auch die Sozialwissenschaften, besonders die Pädagogik, alles aus, was ihr unrealistisches Menschenbild erschüttern könnte.

Durch Abschaffung oder Relativierung von Prüfungen, Zeugnissen und Versetzungen, durch Einführung neuer Curricula sowie neuer Schularten wurde das bislang geforderte geistige Niveau so abgeflacht, daß es zu einer wundersamen Intelligenz-Vermehrung kam.

Mittlerweile besuchen bis zu achtzig Prozent eines Jahrgangs die Oberstufe, aber weniger als zwanzig Prozent die Hauptschule. Die Folgen dieser politischen IQ-Explosion unter dem Motto „Abitur/Studium für alle – umsonst!“ sind bekannt: Professoren klagen, immer mehr Schulabsolventen seien nicht studierfähig, während Betriebe konstatieren, die meisten seien nicht ausbildungsfähig.

Soziale Gleichheit wegen natürlicher Ungleichheit

Nicht einmal die Begründer des Marxismus haben die natürliche Ungleichheit bestritten – im Gegenteil: Sie kämpften für die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, um so zumindest eine soziale Gleichheit herbeizuführen, weil sie hofften, in einer derartigen Gesellschaft sei es möglich, daß die schicksalhafte, weil angeborene Ungleichheit keine neuen Herrschaftsverhältnisse mehr zwischen den Menschen entstehen lassen werde.

Sie wollten das Verteilungsprinzip gemäß der Leistung („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“), das auch im Sozialismus nicht über eine „ungerechte Gleichheit“ hinausgehe, da nur an einem einzigen Maßstab, nämlich der Arbeit, gemessen wird, durch das Bedürfnisprinzip ersetzen.

Erst dieses Prinzip („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“) werde in der Utopie ihrer kommunistischen Gesellschaft eine „gerechte Ungleichheit“ begründen, der zufolge jeder – unabhängig von seiner Leistung – am genossenschaftlichen Überfluß partizipieren könne. Diese Vorstellung verbirgt sich noch heute hinter der pubertär-anarchischen Parole „Luxus für alle – sofort!“

Der Sozialismus ist daran gescheitert, daß sich die menschliche Natur zwar eine gewisse Zeit unterdrücken, aber nicht auf Dauer verändern läßt. Die Dialektik von Freiheit und Gleichheit ist zeitlos und gilt für jede Gesellschaft, sei sie demokratisch oder diktatorisch regiert, basiere sie auf einer kapitalistischen oder einer sozialistischen Ökonomie.

Gleichheit lässt sich nicht auf Dauer erzwingen

Die Auseinandersetzung über den jeweiligen Grad der Freiheit und der Gleichheit findet in fast allen Bereichen des politischen Lebens statt und spaltet überall die Bevölkerung in zwei entgegengesetzte Parteien.

In Deutschland zeichnet sich schon seit Jahren die lange verdeckte Klassenstruktur immer deutlicher ab und offenbart, potenziert durch den steten Zustrom unqualifizierter Einwanderer, im unteren Segment der Gesellschaft zunehmende Verwahrlosungstendenzen.

Hier helfen auch die sprachlichen Bemühungen nicht mehr, mit denen eine Political Correctness die Tatbestände zu bemänteln versucht: Da ist von „bildungsfernen“ Schichten die Rede – doch wer, wenn nicht sie selbst, hält sie von Bildung fern? Da wird von „sozial Benachteiligten“ gesprochen – doch wer benachteiligt sie, wenn nicht ihr eigenes Unvermögen?

In den Deklassierungsstrudel wird, verstärkt durch die Corona-Pandemie, zusehends auch die untere Mittelschicht gerissen, denn wegen der postindustriellen Entwertung der Muskelkraft ist der Intelligenzquotient in der sich rapide entwickelnden Wissensgesellschaft zur entscheidenden Produktivkraft geworden. Die Intelligenz aber – definiert als Fähigkeit zur Erkenntnis – ist stärker durch die Erbanlagen als durch das soziale Milieu bestimmt.

Was die Menschen aus ihren unterschiedlichen Geistesgaben machen, hängt zwar von der jeweiligen Umwelt ab; mithin entscheidet das Soziale darüber, was aus dem Biologischen wird. Doch der Geist selbst ist keine Tabula rasa, keine Art Wachstafel, auf die die Gesellschaft alles schreiben kann. Das menschliche Wesen, so ließe sich in Abwandlung von Marx definieren, ist das Ensemble der je biologischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.

Freiheit bedeutet Selektion – und die tut weh

Die “neuen” Unterschichten (in Wahrheit die stets existierenden, aber erst in Krisenzeiten wieder aufgedeckten alten Schichten) sind somit Opfer in doppelter Hinsicht: zum einen wegen ihres Schicksals, zu den geistig Minderbegabten zu gehören, zum anderen aber wegen einer Politik, die die scheinbar menschenfreundliche Gleichheitslüge zu einem Dogma erhoben hat.

Ruhe, Ordnung und Sicherheit lassen sich nur dann gewährleisten, wenn es gelingt, Freiheit und Gleichheit in jene Balance zu bringen, die die Dynamik der Gesellschaft wieder freisetzt und gleichzeitig das Sozialstaatsgebot dahingehend modifiziert, daß solidarische Hilfe nur jenen gewährt wird, die unverschuldet in Not geraten.

Hier sollte, wie auch in anderen Bereichen, das altrömische Prinzip suum cuique, also Jedem das Seine, gelten und nicht das egalitäre Allen das Gleiche.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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