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Die Erfindung der liberalen Demokratie, Teil 2

14. Januar 2022
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Hätte sich 1975 mit dem Ende des Vietnamkriegs die von Studenten initiierte Protestbewegung in der alten Bundesrepublik erschöpft, wären die Achtundsechziger längst Geschichte und vergessen. Doch für ihre Protagonisten um Rudi Dutschke war Vietnam lediglich der Anlaß gewesen, für ihr wahres Ziel zu kämpfen: den Systemwechsel hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. Damals hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aus dem amerikanischen Exil heimgekehrte Vordenker der „Frankfurter Schule“, im Verein mit Jürgen Habermas, Herbert Marcuse und Ernst Bloch einen undogmatischen Kulturmarxismus entwickelt, der in der Studentenbewegung auf fruchtbaren Boden fiel.

Die Propheten des kommenden Totalitarismus

Hauptthemen waren Horkheimers Diktum, wer vom Faschismus rede, dürfe vom Kapitalismus nicht schweigen, sowie Marcuses und Wilhelm Reichs Behauptung, die patriarchalisch-bürgerliche Familie sei Geburts- und Brutstätte des „autoritären Charakters“, der die entscheidende Grundlage des Faschismus bilde. Mit Hilfe dieser Theorien entwickelte sich im Zuge des von Dutschke proklamierten „Marsches durch die Institutionen“ eine antikapitalistische und antibürgerliche Phalanx, die auf die Kommandozentralen im ideologischen Überbau zielte.

Als in Hochschulen und den meisten Medien die letzten von Konservativen gehaltenen Bastionen erobert waren, schritt — mit Ausnahme der Wirtschaft — die Revolutionierung aller Bereiche der Gesellschaft zügig voran. Das Ergebnis war und ist so bestürzend, weil die linksgrüne Diskurshoheit mittlerweile durch eine an Orwells Dystopie gemahnende political correctness auch sprachlich abgesichert ist, so daß jede abweichende Meinung als „rechtspopulistisch“ denunziert, wenn nicht gar kriminalisiert wird:

Familie, Volk, nationale Souveränität, deutsche Geschichte und deutsche Leitkultur, die einer rigorosen „Dekonstruktion“ unterzogen wurden, haben längst ihre staatstragenden Funktionen verloren.

Zersetzung durch Vielfalt

Aus dem „deutschen Volk“, laut Grundgesetz der nominelle Souverän des Landes, ist durch massive und weitgehend ungesteuerte Zuwanderung eine multiethnische und multikulturelle „Bevölkerung“ geworden. In vielen Großstädten haben sich Parallelgesellschaften entwickelt, in denen der Staat seine Hoheitsrechte aufgegeben hat.

Relativismus, Gleichmacherei und eine ideologisch motivierte Antidiskriminierung bis hin zur Inklusion auch geistig Behinderter in Klassen mit normal entwickelten Schülern haben das einst vorbildliche deutsche Bildungswesen an den Rand der Katastrophe geführt.

Die von Homosexuellen-Verbänden und einem extremen Feminismus propagierte Gender-Ideologie hat die bislang nur heterosexuellen Paaren vorbehaltene Ehe sowie das Adoptionsrecht auch für sexuelle Minderheiten geöffnet. Vielerorts steht schon für Grundschüler die Frühsexualisierung auf dem Unterrichtsplan.

Sonderweg Mitteldeutschland?

Diese aus Westdeutschland zwangsweise importierten Entwicklungen haben bei vielen Bürgern in den neuen Bundesländern nicht nur Mißtrauen und Enttäuschung, sondern blankes Entsetzen ausgelöst. Schließlich hatten sich die meisten von der Wiedervereinigung ein souveränes, freies, demokratisches und prosperierendes Gesamtdeutschland erhofft. Daß die Proteste, im Herbst 2014 als „Abendspaziergänge“ der Pegida — der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes — ins Leben gerufen, zuerst in Dresden öffentlich artikuliert wurden, konnte nicht verwundern: Im Gegensatz etwa zum proletarisch geprägten Leipzig hatte in Dresden ein selbstbewußtes Bildungsbürgertum selbst der SED-Diktatur die Stirn geboten, wie nicht zuletzt aus Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ hervorgeht.

Hatten die 68er vor Jahrzehnten die Machtfrage von links aufgeworfen, so stellte die Pegida-Bewegung erstmals seit der Wiedervereinigung die Machtfrage von rechts — noch dazu auf der Straße, was die politmediale Klasse sofort in Panik versetzte. Zwar hat der von Dresden ausgegangene Impuls nicht zur Revidierung fataler Fehlentscheidungen geführt, den Montagsdemonstranten ist es aber innerhalb kurzer Zeit gelungen, das linksgrüne Meinungsmonopol zu sprengen und viele Tabus zu Fall zu bringen.

So sahen sich Politik und Medien plötzlich gezwungen, öffentlich zu thematisieren, daß der Koran, mithin der Islam, die entscheidende Quelle des Islamismus ist; daß Deutschland nach dem Muster Kanadas ein Einwanderungsgesetz braucht, das nur solche Immigranten ins Land läßt, die ihm nützlich sind und nicht die staatlichen Sozialkassen belasten; dass jene zwei Drittel der Asylbewerber, deren Gesuch in der Regel unbegründet ist, wieder abgeschoben werden sollen; daß Parallelgesellschaften ein maßgebliches Integrationshindernis sind und nicht geduldet werden dürfen.

Das Wunschkonzert der Anständigen

Bereits im Jahr 2010 war der Linksliberalismus, jene Mischung aus hedonistischem Individualismus und linkem Gleichheitsstreben, in eine Verteidigungsposition gedrängt worden. Mit seinem millionenfach verkauften Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ war es dem damaligen Bundesbanker Thilo Sarrazin gelungen, anhand bis heute nicht widerlegter Zahlen und Fakten das Gerede von der harmonischen und in jeder Hinsicht, auch der finanziell-materiellen, bereichernden Multikulti-Gesellschaft als Schimäre zu entlarven. Das „postfaktische Zeitalter“, das heute als Kampfvokabel gegen vermeintliche Populisten eingesetzt wird, hatte die politmediale Klasse vor Jahrzehnten selbst avant la lettre ins Leben gerufen, um ihre Staat und Nation radikal verändernden Ziele zu bemänteln.

Seinerzeit bliesen alle führenden Gazetten im Verbund mit den öffentlich-rechtlichen Medien sofort zu einer bis dato nicht gekannten Menschenhatz; in der taz wünschte man dem mutigen Tabubrecher gar den Tod. Während Kanzlerin Merkel sofort wußte, daß das Buch „nicht hilfreich“ sei, obwohl sie es eingestandenermaßen nicht gelesen hatte, verstieg sich SPD-Chef Gabriel zu der Behauptung, die Thesen seines (noch) Parteigenossen Sarrazin führten „in ihrer absoluten Perversion letztlich zu Euthanasie und Auschwitz“.

Auch wenn es niemand laut und deutlich auszusprechen wagte — seit Jahren waren schon damals die Anzeichen weder zu überhören noch zu übersehen und schon gar nicht zu überlesen: Deutschland war gespalten und befindet sich bis heute in einem (vorerst noch geistigen) Ringen um die Zukunft der Republik. Sogar die von offizieller Seite dekretierte Bestimmung des inneren Feindes läßt sich für jedermann exakt terminieren: Am 4. Oktober 2000 rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ auf, nachdem zwei Tage zuvor ein Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf verübt worden war.

Als Folge dieses Appells wurden in Bund, Ländern und Kommunen Lichterketten und Demonstrationen organisiert; die rotgrüne Bundesregierung entwarf ein Programm zur Unterstützung von Initiativen gegen „Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Zwei Monate später stellte sich jedoch heraus, dass der Düsseldorfer Anschlag auf das Konto zweier Araber gegangen war, die den Tod eines Jungen rächen wollten, den israelische Soldaten im Gaza-Streifen erschossen hatten. Das Geständnis der beiden spielte indes keine Rolle mehr. Der „Kampf gegen Rechts“ (und nicht nur gegen den Rechtsextremismus) entwickelte ein Eigenleben und hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt.

Doch was ist „rechts“? Vielleicht kommt man dem Inhalt dieses Begriffs am nächsten, wenn im Kontrast die grobe Zielrichtung linker Wunschvorstellungen dargelegt wird: Links ist die Sehnsucht nach einer „besseren Welt“, nach einer Gesellschaft, in der es keine Hierarchien mehr gibt, kein Oben und kein Unten, in der jedem alles offensteht und sich alle von gleich zu gleich begegnen, in der jedem Respekt und Wertschätzung entgegengebracht wird und er/sie Teilhabe an allem hat, ohne nach Herkunft oder Leistung zu fragen. Kurz, es ist der kommunistische Traum, die Utopie einer globalen Gemeinschaft ohne Klassen, ohne Grenzen und ohne Staaten, weil wir doch alle Menschen sind, die in einer Welt leben — gemäß der einstigen Werbebotschaft des Unternehmens Benetton von den united colours in one world.

Die Rechten wollen nicht mitspielen

Wer diese Vision nicht zu teilen vermag, weil sie individuelle und nationale kulturelle Ungleichheit negiert und dadurch staatliche sowie persönliche Autorität untergräbt, steht im Verdacht, ein völkischer Reaktionär zu sein. Spießige Nostalgie, Deutschtümelei, identitäre Hysterie, Verharren im Altmodischen, fortschrittsfeindliche Verklärung der Vergangenheit — so lauten die Vorwürfe, mit denen permanent gegen Rechte und Konservative zu Felde gezogen wird. Doch die Siegesgewißheit der grünlinken Utopisten ist längst verflogen. In TV-Produktionen wie dem Film „Das Haus“ oder in Serien wie „Furia“ und „Westwall“ (alle 2021) wird angstvoll, aber unverhohlen dargestellt, was die politmediale Klasse im realen Leben zur Kenntnis nehmen muß: daß sich rechter Widerstand sogar in Sicherheitsorganisationen wie Polizei, Militär und Geheimdiensten formiert.

Durch das gegenwärtig überall zu hörende Lamento, Deutschland, EU-Europa, ja, die gesamte westliche Welt befinde sich in einer existenziellen Krise, bewahrheitet sich einmal mehr die vorsokratische, von Martin Heidegger wieder in Erinnerung gebrachte Erkenntnis, das Sein allen Werdens sei die ewige Wiederkehr des Gleichen. Schließlich geschieht es nicht zum erstenmal, dass ein Welt- und Menschenbild ins Wanken gerät. Nach den utopischen Aufschwüngen des Linksliberalismus steht jetzt die allmähliche Rückkehr zu Maß und Mitte, zu Vernunft und gesundem Menschenverstand auf der Tagesordnung.

Wie überfällig die Wende ist, war dem Arzt und Philosophen Karl Jaspers bereits 1951 angesichts der pluralistischen Massendemokratie und der technischen Moderne bewußt. Sein Ausgangspunkt war der Zerfall der geschichtlichen Erinnerung. Was Jaspers damals unter dem Eindruck der beiden totalitären Diktaturen schrieb, hat Gültigkeit auch für die Gegenwart:

„Mit der Preisgabe der historischen Kontinuität wird das Bewußtsein des Abendlandes, wird Heimat, Herkunft, Familie gleichgültig, wird das je eigne Leben gelebt ohne Erinnerung. Durch Ausbleiben der Überlieferung, durch Beschränkung der Erziehung auf das Nützliche scheint die Geschichte gleichsam abzureißen.“

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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Kampf gegen Staatsmedien und linken Einheitsbrei