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Russland hat also Panzer geschickt – und jetzt?

22. Februar 2022
in 4 min lesen

Vor rund acht Jahren führte der gewaltsame Umsturz in Kiew zum Abfall der ukrainischen Ostgebiete. Ein Bürgerkrieg brach aus, in dessen Folge etwa 14.000 Menschen starben. Russland besetzte die Krim, Waffenstillstandsverträge wurden beschlossen und gebrochen. In Europa herrscht seit dem Frühjahr 2014 wieder ein Kalter Krieg. Jetzt hat sich die Temperatur erhöht.

Mit der Anerkennung der beiden sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk hat Russland seine Drohung wahrgemacht. Schon in der letzten Nacht rollten Panzerkolonnen in die Separatistengebiete. In den Tagen zuvor hatte es zahlreiche Meldungen über ukrainische Angriffe auf diese Territorien gegeben, und mehr noch: Zwei ukrainische Schützenpanzer samt Besatzung sollen bei dem Versuch ausgeschaltet worden sein, die russische Grenze zu überqueren. Dass es sich hierbei um inszenierte Vorfälle handelte, ist mehr als wahrscheinlich.

Russische Truppen stehen nun in den Großräumen Luhansk und Donezk, aber wie geht es weiter? Denn selbst wenn sich amerikanische Analysten gerade auf die Schultern klopfen, weil ihre zum hundertsten Male wiederholte Ankündigung einer russischen Invasion sozusagen eingetroffen ist – ein heißer Krieg zwischen Russland auf der einen Seite und einer vom Westen unterstützten Ukraine auf der anderen Seite ist bisher immer noch nicht ausgebrochen.

Genau dieses Szenario wurde aber über Monate angekündigt. Kein Tag, in dem nicht deutsche Zeitungen ansehnliche Graphiken von Landkarten und Panzern veröffentlichten. Kein Tag, an dem nicht rote Pfeile und Kreise uns den Eindruck vermitteln sollten, dass Notkäufe von Klopapier und Ravioli-Dosen wieder angebracht sein könnten …

Lassen wir uns also mal einen einzigen Moment nicht von den Fotos und Filmchen irgendwelcher vorbeirauschenden Panzerkolonnen irritieren. Vergessen wir für einen Moment die schrillen Schlagzeilen der „BILD“. Versuchen wir die verschiedenen Optionen, die sich aus der derzeitigen Lage ergeben, voneinander abzugrenzen.

Zur Ausgangslage: Russland vollzieht jetzt offen, was es bereits seit 2014 verdeckt tat – es unterstützt die separatistischen Volksrepubliken militärisch und signalisiert mit ihrer politischen Anerkennung, dass die Gebiete nie wieder in die ukrainische Einflusszone zurückkehren werden. Da sich inmitten durch das Territorium die ukrainisch-separatistische Frontlinie zieht, deutet sich als nächster Schritt eine wirklich militärische Konfrontation ab. Hier sind wir bei Szenario 1: Separatistische Truppen stoßen mit massiver russischer Unterstützung (Luftschläge, amphibische Landeoperationen an der asowschen Küste) nach Westen vor, um die volle Kontrolle über ihr Territorium zu erlangen. Zunächst einmal ist diese Option sehr naheliegend, aber deswegen nicht allein zwangsläufig. Was spräche für den Vorstoß:

+ Die Ukraine-Politik Russlands wird von der berechtigten Sorge gestützt, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine zur Stationierung von Atomraketen auf deren Territorium führen könnte. Die Reaktionszeit bei einem Erstschlag der NATO würde sich für Russland derart verkürzen, dass angemessene Schutzmaßnahmen nicht rechtzeitig eingeleitet werden könnten. Noch alarmierender wäre aber der Verlust der Zweitschlagsfähigkeit – mit der Entfernung dieser Stütze des „Prinzips der gegenseitigen Abschreckung“ könnte Russland gleich seine staatliche Souveränität aufgeben. Für uns bedeutet das also folgendes: Russland braucht Pufferzone, und zwar ordentlich. Die Volksrepubliken in ihrem jetzigen Zustand sind dagegen ein Witz.

+ Mit der Anerkennung der Volksrepubliken hat sich Russland zum Protektor erklärt und befindet sich unter Zugzwang.

+ Mit jedem verstreichenden Tag erhält die ukrainische Armee mehr Ausrüstung und die ukrainische Regierung mehr politischen Rückhalt aus dem Westen. Die dünne blau-gelbe Linie westlich von Donezk und Luhansk wird zwar auch mit westlichen Panzerabwehrwaffen den Angriff nicht aufhalten können, allerdings können sie den Preis für die Russen erhöhen. Russland kann sich schon lange keine Opferzahlen mehr leisten, wie in den Kriegen der Vergangenheit.

Es gibt allerdings auch Gründe, die gegen einen gewaltsamen Vorstoß nach Westen sprechen:

– Russland zögert bisher, diesen Schritt zu vollziehen. Denn was hätte sie aufhalten sollen, noch letzte Nacht weiter nach Westen zu walzen? Der Grund dafür ist naheliegend: Diplomatie. Die gestrige Aktion hat Russland im Vorfeld für den Fall angedroht, dass der Westen und die NATO nicht auf seine Forderungen eingehen. Jetzt hat Russland geliefert und Westen ist wieder am Zug.

– Der ukrainische Präsident Selenskij hat, trotz beständiger Forderungen nach Waffenlieferungen und Unterstützung, die Kriegsgefahr beständig heruntergespielt. Während amerikanische Geheimdienste eine russische Invasion nach der nächsten ankündigten, weigerte er sich die Mobilmachung zu verkünden. Er wiegelt auch jetzt auf eine seltsame Art und Weise die Sache herunter, was darauf hindeutet, dass er den Russen keine Argumente einer „ukrainischen Aggression“ liefern möchte. Ist dies tatsächlich der Fall, könnte er demnächst die Rücknahme der Armeestellungen nach Westen beschließen. Das Territorium der Volksrepubliken wäre „wiederhergestellt“, Russland behielte sein Gesicht, kein Schuss wäre gefallen.

Das ist alles ist im Bereich des Möglichen, aber ganz ehrlich: Wir wissen es nicht. Wir sind keine OSINT-Analysten und an den Wänden unseres Redaktionsbüros hängen auch keine Fotos und Zeitungsschnipsel, die wir mit roten Fäden verbinden. Wir werden daher auch nicht Floskeln wie „Es war völlig klar…“ oder „Wie wir es uns gedacht haben…“ um die Ecke kommen. Aber genug dazu, spekulieren wir mal weiter und kommen zu Szenario 2:

Unsere Überlegungen werden nach wie vor von der Annahme getragen, dass es Russland auf die Errichtung einer möglichst großen Pufferzone ankommt. Wer sich die Karte der Ukraine anschaut, wird von selbst zu dem Schluss kommen, dass der Dnepr die natürliche (und sehr nasse) Grenze ist, bis zu der die Russen ihre Pufferzone ausdehnen könnten. Während bei Szenario 1 die ukrainische Regierung noch klein beigeben könnte, schreit Szenario 2 nach Krieg. Welches Land gäbe freiwillig fast die Hälfte seines Staatsgebiets kampflos auf, sogar unter der wahrscheinlichen Inkaufnahme der Verlagerung der eigenen Hauptstadt? Gut, okay – es soll Länder geben, die es nicht mehr für nötig halten ihre Grenzen vor illegalen Einwanderern zu schützen, aber das hier wäre ein anderer Fall. Ist Szenario 2 wahrscheinlich?

+ Nach der gestrigen Verkündung des Kremls und seiner faktischen Negierung der Souveränität des ukrainischen Staates wurde zumindest die grundsätzliche Möglichkeit der Option in den Raum gestellt.

+ Der Dnepr bietet sich einfach als Grenze an. Das sieht man doch. Hallo! Ein Autist würde andernfalls wahnsinnig werden…

+ Russland hätte zwischen sich und feindlichen Atomraketen einige hundert Kilometer Platz gewonnen. Die Restukraine westlich des Dnepr würde auf Grund des verlorenen Krieges und der daraus resultierenden Staatskrise zerfallen, oder sich irgendwie neu organisieren. Träte sie dann der NATO bei, könnte das Russland herzlich egal sein. Es hätte ja, was es will.

Da Szenario 2 nur im Rahmen einer militärischen Konfrontation denkbar ist, sprechen auch einige Punkte dagegen:

– Ein konventioneller Krieg zwischen der Ukraine und Russland wäre so verlustreich, dass ihn sich keine Seite leisten will.

– In der Ostukraine leben zwar viele ethnische Russen, aber noch mehr Ukrainer. Russland wäre bescheuert zu glauben, dass man seine Armee dort überall willkommen hieße…

– Die Ukraine ist ein wirtschaftliches Wrack. Selbst wenn Russland sich das Territorium nicht einverleibt, sondern über Satellitenstaaten kontrolliert – was will man mit schrottreifen „Volksrepubliken“, die potenziell für Unruhe sorgen?

Wir sind auf ihre Einschätzungen dazu gespannt und freuen uns auf angeregte Diskussionen in unserer Kommentarspalte!

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