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Schuld, Kult und die Angst der deutschen Linken

29. Juli 2021
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In seinen weltberühmten Gedanken über Politik und Staatsführung hat Niccolò Machiavelli (1469-1527) die Zeitgenossen in die Trickkiste mancher Renaissance-Fürsten blicken lassen. Zu den drei wichtigsten Herrschaftsgeheimnissen, so Machiavelli, zähle neben den metaphysischen Erkenntnissen, daß es weder einen Gott noch einen Sinn in der menschlichen Geschichte gebe, auch die Einsicht, unter den Völkern sei keines besser als das andere.

Um erfolgreich Politik zu betreiben, müsse ein kluger Fürst jedoch alles versuchen, seine Untertanen vom genauen Gegenteil dieser arkanen Wahrheiten zu überzeugen. Schließlich befördere der Glaube an Gott Sittlichkeit und Gesetzestreue und garantiere dadurch Ruhe und Ordnung im Staat. Die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des Lebens beflügele Bildungsdrang und Gewerbefleiß der Bürger; der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Volkes wiederum stärke, besonders in Kriegszeiten, Mut, Tapferkeit und Durchhaltewillen.

Gott will diesen Krieg

Wie der Verlauf der Weltgeschichte zeigt, haben Machiavellis Maximen bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Selbst im 21. Jahrhundert ist es politischen Führern nach wie vor möglich, große Teile der Bevölkerung durch den Appell an Gott hinter sich zu scharen. So reklamierte George W. Bush – im Gegensatz zu Machiavelli allerdings aus tiefster Überzeugung – Gottes Willen nicht nur für seine Präsidentschaft, sondern im März 2003 auch für den auf einer Lüge basierenden völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak.

Im Grunde berief sich Bush jr. dabei lediglich auf den Gründungsmythos der USA – auf den angeblich göttlichen Auftrag, als „auserwählte Nation“ allen Völkern Freiheit und Demokratie zu bringen. Auch wenn diese Selbstlegitimierung zur Zwangsbeglückung außerhalb der Vereinigten Staaten auf Ablehnung stößt, bleibt die angemaßte Berufung zu militanten Weltmissionen Kern des Glaubens an den „American exceptionalism“.

Nicht anders handeln und argumentieren die islamistischen Gotteskrieger, die die Welt in eine umma, in die globale Gemeinschaft aller Muslime, bomben wollen. All diese Kämpfer für eine angeblich bessere Welt lassen die historische Erfahrung außer acht, daß sich jedes Volk – und mag es noch so unterdrückt sein – selbst befreien muß. Niemand kann an seiner Statt handeln, mögen seine Motive noch so lauter sein, was fast nie der Fall ist.

In Frankreich fuhren die Züge nach Plan

Nur wenn ein diktatorisches Regime eine aggressive Außenpolitik betreibt und ein anderes Land überfällt, ist ein Eingriff von außen legitim, ansonsten gebieten die Prinzipien der friedlichen Koexistenz die Achtung der nationalen Souveränität und der territorialen Integrität sowie der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten.

Seit 1945 haben Sendungsbewußtsein und Selbsterhöhung vieler Völker indes einen empfindlichen Dämpfer erhalten, nicht zuletzt durch die aktuelle Debatte über Kolonialismus und Rassismus. Unabhängig davon mußten die Franzosen, die sich als Lichtbringer der Aufklärung sehen, schon vor Jahren zur Kenntnis nehmen, daß es neben der beträchtlichen Résistance gegen die Deutschen auch die Kollaboration der Mehrheit mit den Besatzern gab.

„74 Züge sind nach Auschwitz gefahren. 76.000 verschleppte Juden aus Frankreich sind nicht von dort zurückgekehrt. Ihnen gegenüber haben wir eine immerwährende Schuld“, erklärte Staatspräsident Jacques Chirac 1995 zum Gedenken an die große Judenrazzia von 1942, bei der die französische Staatsbahn bereitwillig mitgearbeitet hatte.

Anne Frank wurde verkauft

Auch die Holländer, gegenüber ihren östlichen Nachbarn von oftmals penetranter moralischer Arroganz, haben den selbstgestrickten Mythos vom „heldenhaften Volk“ längst aufgeben müssen. Die Vernichtung des niederländischen Judentums und die Kollaboration zählen neben dem Sklavenhandel und dem Kolonialismus zu den unrühmlichsten Kapiteln ihrer Geschichte.

Bereits 1943 wurden die Niederlande offiziell für „judenrein“ erklärt; 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung, 107.000 Menschen, starben in den NS-Vernichtungslagern – das war die prozentual höchste Opferzahl in ganz Westeuropa. Viele Holländer hatten sich professionell an der Jagd nach versteckten Juden beteiligt. Es wurde damals ein Kopfgeld von 7,50 Gulden (etwa 37 Euro) für jeden aufgespürten Juden gezahlt; auch Anne Frank, nach dem Krieg zu einer nationalen Ikone stilisiert, wurde für Geld denunziert.

Königin Beatrix räumte daher 1996 in mehreren Reden, so vor der Knesseth in Jerusalem, mit dem Mythos auf, ihre Landsleute seien ein heldenhaftes Volk gewesen. Daß Holland ein „Land im Widerstand“ war, hatte sich als fromme Lüge entlarvt, gespeist aus Heuchelei und Selbstgerechtigkeit.

Auch unter den Polen gab es Verbrecher

Dänen und Norweger mußten ebenfalls häßliche Flecken auf ihrer moralischen Weste zur Kenntnis nehmen; nicht anders die Schweden, die seinerzeit trotz offizieller Neutralität ohne Skrupel äußerst lukrative Geschäfte mit dem Großdeutschen Reich tätigten.

Selbst Polen, das sich aufgrund seiner unglücklichen Nationalgeschichte gern als „Messias der Völker“ darstellt, der unschuldig ans Kreuz geschlagen wurde, mußte von diesem Mythos Abschied nehmen – es hat eben nicht nur eine Opfer-, sondern in der Judenfrage auch eine beschämende Täterrolle gespielt.

Wie perfide und verhängnisvoll Großbritannien im 20. Jahrhundert agiert hat, räumte Außenminister Jack Straw im November 2002 in einem Gespräch mit dem New Statesman in undiplomatischer Offenheit ein: „Ein großer Teil der Probleme, die uns noch heute zu schaffen machen, ist eine Folge unserer Kolonialverwaltung.“ Als Beispiele nannte er Indien und Pakistan („einige schwere Fehler“); ferner Afghanistan („unsere Rolle dort war nicht sehr glanzvoll“).

Besonders aber wies Straw auf den Mittleren und den Nahen Osten hin: „Die krummen Grenzen wurden von den Briten gezogen. Die Balfour-Deklaration und eine Reihe ihr widersprechender Garantien gingen an Palästinenser und Israelis gleichzeitig. Auch das ist eine interessante Geschichte, wenn auch keine unbedingt ehrenhafte.“

Dieser Tage haben sich auch auf das als Muster von Liberalität und Weltoffenheit gepriesene Kanada düstere Schatten gelegt: Seit Mai werden nahezu jeden Tag durch den Einsatz modernster Technik die Überreste von Kindern im Umkreis ehemaliger katholischer Zwangsanstalten entdeckt. Diese Umerziehungsinternate für Töchter und Söhne von Ureinwohnern sollten, so eine indigene Historikerin, „den Indianer im Kind töten“. Körperliche und sexuelle Mißhandlungen seien an der Tagesordnung gewesen – so Schläge, wenn sich die Kinder in ihrer Sprache unterhielten.

In einem Untersuchungsbericht ist von einem „kulturellen Genozid“ die Rede, dem schätzungsweise 150.000 Kinder zum Opfer fielen. Ministerpräsident Justin Trudeau, selbst Katholik, spricht von einer „beschämenden Geschichte, deren wir uns alle bewußt werden“ (Märkische Allgemeine Zeitung, 31. Juli 2021).

Relativierung ist kein Verbrechen, sondern dringend notwendig

So ließe sich wohl unschwer nachweisen, wie nah Licht und Schatten bei jedem Volk liegen – und wie recht Machiavelli mit seinem Diktum hat, keines sei besser als ein anderes. Gleichzeitig dürfte aber auch der Umkehrschluß gelten: daß kein Volk schlechter ist als ein anderes. Doch gilt dieser Satz wirklich? F
ür das deutsche Volk offenbar nicht – zumindest nicht nach Ansicht des linken und linksliberalen Meinungskartells, das seit Jahrzehnten die eigenen Landsleute nahezu täglich ins Sühnejoch zwingt.

Schon 1968 hatte der Publizist Günter Maschke festgestellt: „Wer die Verbrechen unter den Nationalsozialisten ´relativiertˋ, wer ihre ´Einzigartigkeitˋ bestreitet, der, so hört man, verharmlost sie. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der ´Relativierer´ verharmlost gar nichts, er spricht vielmehr die furchtbare Wahrheit aus, daß wir alle, alle ohne Ausnahme, im größten Stil zum Morden fähig sind. Verharmloser ist hingegen jener, der auf die ˋEinzigartigkeit´ der deutschen Verbrechen pocht. Er will nämlich an der Lüge festhalten, daß der Mensch im Grunde gut ist. Nur der Deutsche ist eben schlecht.“

Der Österreicher Viktor E. Frankl, Begründer der Logotherapie und ehemaliger Häftling im KZ Dachau, bestätigte diese negative Anthropologie: „Ich wage die Behauptung, daß jede Nation grundsätzlich holocaustfähig ist.“

Doch den deutschen Linken und dem linksliberalen juste milieu geht es nicht um anthropologische Wertungen. Ihnen geht es um die Überwindung ihrer Angst – der Angst vor dem eigenen Volk. Zweimal nämlich hat es ihnen einen traumatischen Schock versetzt: So stand es mehrheitlich hinter einer rechten Diktatur und hielt ihr fast bis zum bitteren Ende die Treue; wenig später lehnte die Mehrheit der Mitteldeutschen eine linke Diktatur ab und stürzte sie schließlich auf friedliche Weise, was obendrein – horribile dictu! – zur nationalen Wiedervereinigung führte.

Von diesen Traumata haben sich Linke und Linksliberale bis heute nicht erholt, was ihr Mißtrauen gegenüber Volk, Nation und Staat begründet, aus dem blanker Haß werden kann. So skandierten die Antinationalen in den Reihen der Grünen bereits in den achtziger Jahren, als es um Zuwanderung und Asyl ging: „Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht allein!“

Deutschenhass als Zeichen der Verzweiflung

Im Zuge der Wiedervereinigung steigerte sich der Furor bei autonomen und antifaschistischen Krawalltruppen zu Haßappellen wie: „Deutschland, halt´s Maul!“, „Deutschland, verrecke!“, „Nie wieder Deutschland!“ oder „Deutschland von der Karte streichen – Polen muß bis Frankreich reichen!“ Nähme dieser Staat seine Gesetze in Bezug auf beide politischen Extrempositionen ernst, hätte er derartige Parolen längst als Rassismus und Volksverhetzung ahnden müssen.

Zur Überwindung ihrer Traumata bedienen sich Linke und Linksliberale zweier Strategien: Die SED-Herrschaft wird schöngeredet und jeder Vergleich mit dem NS-System, wie er einer antitotalitären Betrachtungsweise angemessen wäre, entrüstet zurückgewiesen; zugleich wird der Mythos des antifaschistischen Widerstands beschworen und das „Dritte Reich“ pauschal als „Epoche der Barbarei“ abqualifiziert, was zwar dem furchtbaren Schicksal der Opfer entspricht, den Erfahrungen der meisten damaligen Zeitgenossen aber völlig zuwiderläuft.

So stellte Joachim C. Fest in der Einleitung seiner Hitler-Biographie folgendes Gedankenexperiment an: „Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen.“

Und Sebastian Haffner resümierte angesichts der innen- und außenpolitischen Erfolge des Regimes für das Jahr 1939: „Die so durch den Augenschein Hitlerscher Leistungen Bekehrten oder Halbbekehrten wurden im allgemeinen keine Nationalsozialisten; aber sie wurden Hitleranhänger, Führergläubige. Und das waren auf dem Höhepunkt der allgemeinen Führergläubigkeit wohl sicher mehr als neunzig Prozent aller Deutschen.“

Die Täterrolle ist für die Deutschen reserviert

Demgegenüber wurde im Zuge der 68er-Revolution allen spätestens ab 1935 Geborenen eingeredet, ihre Eltern und Großeltern seien Verbrecher gewesen, mindestens aber Wegbereiter und Mitläufer von Massenmördern. Diese moralische Überheblichkeit und der nachholende Widerstand sind in der bundesrepublikanischen Demokratie indes nur eine wohlfeile Pose. Das hindert Linke und Linksliberale jedoch nicht daran, die mißtrauisch beäugte Mehrheitsgesellschaft weiterhin zu pädagogisieren und zu therapieren, um deren „Ressentiments“ und „Vorurteile“ zu bekämpfen.

Bisher ist ihr Konzept prächtig aufgegangen: Sie haben die deutsche Bevölkerung in immer mehr „diskriminierte“ Minderheiten auseinanderdividiert – in Zugewanderte, in Frauen, in diverse sexuelle Minoritäten etc.–, so daß den Autochthonen als der (noch) zahlenmäßigen Mehrheit jedes Nationalgefühl und jegliche Leitkultur abhanden gekommen sind.

Doch je fragmentierter die Gesellschaft wird und je schwächer der Zusammenhalt, desto größer wird die Angst der Linken und Linksliberalen vor dem Unaussprechlichen: daß nach Angela Merkels Abgang die CDU wieder in die Mitte rückt und, ausgehend vom Osten, Union, AfD und FDP einen bürgerlichen Block bilden, dessen Zwei-Drittel-Mehrheit das imposante Destruktionswerk wieder zunichtemacht.

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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