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Selbst ihre Dekadenz ist nicht neu

23. September 2022
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Jede Epoche mündet irgendwann in eine Phase ihr gemäßer Dekadenz. So geschah es auch dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, dem Sebastian Brant 1494 seine zeitlose Moralsatire „Das Narrenschiff“ widmete. Brant hielt seinen Zeitgenossen den Spiegel vor, weil er sah, daß sie vor lauter Betrug und Selbstbetrug, vor windiger Projektemacherei und Weltverbesserungsträumen den gesunden Menschenverstand zu verlieren drohten und das Ende allen irdischen Lebens vergaßen: den Tod als den großen Gleichmacher, vor dem selbst das erstrebenswerteste Absolute zur Schimäre wird.

So wie es im Privaten kein ewiges Glück gibt, so wird es in der Politik nicht den freiesten und gerechtesten Staat als das eines Tages erreichte Ende der Geschichte geben. Nein – das Ideal, die vermeintlich beste aller Welten erschöpft sich im Kreislauf von Werden und Vergehen, nur die Personen und die Kostüme wechseln. Brants Resümee bleibt gültig für alle Zeiten:

„Der rühret wohl den Narrenbrei, / Wer wähnet, daß er weise sei. / Und wer sich selbst gefällt gar wohl. / In den Spiegel sieht er stets wie toll! / Und kann doch nicht bemerken das: / Daß er ˋnen Narren sieht im Glas.“

Das Narrenspiel unseres Zeitgeistes, der sich auf den Beginn der neunziger Jahre terminieren läßt, besteht in der Verwirrung der Begriffe. Die sprachpolitische Umdeutung, deren Ziel die Etablierung einer als „liberale Demokratie“ charakterisierten Staats- und Gesellschaftsform ist, hat mittlerweile Orwellsche Ausmaße angenommen.

Daß korrekte Begriffe die Grundlage guten Regierens sind, wußte vor 2.500 Jahren schon Konfuzius. Als ihn der Fürst von We bat, die Staatsgeschäfte zu übernehmen, antwortete Meister Kong auf die Frage eines Schülers, was er denn zuerst in Angriff nehmen werde: „Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.“ Seien nämlich die Begriffe nicht richtig, stimmten die Worte nicht; stimmten die Worte nicht, könnten keine Werke zustande kommen, Moral und Kunst würden nicht gedeihen. Gediehen Kunst und Moral nicht, träfen die Strafen nicht. Am Ende wisse das Volk nicht mehr, wie es sich zu verhalten habe. Der Edle, so Konfuzius, müsse daher als erstes die Unordnung der Begriffe beseitigen. Nur dann könnten aus seinen Worten entsprechende Taten werden.

Hierzulande läßt sich in der politischen Semantik seit Jahren eine Begriffsverwirrung feststellen, die aus der Um- und Neudefinition bislang unumstrittener Tatbestände resultiert. Aus dem Westdeutschland der siebziger Jahre war ein gleichwohl typisches Beispiel die Etikettierung der linksterroristischen „Rote-Armee-Fraktion“. Statt sie als kriminelle Mörderbande zu verurteilen, versuchten linke und linksliberale Sympathisantenkreise, die RAF als „Baader-Meinhof-Gruppe“ zu verharmlosen, deren Mitgliedern mancher sogar heimlich Unterschlupf gewährte.

Ein Exempel aus der Gegenwart ist der sprachliche Umgang mit dem massenhaften Zustrom von Migranten aus dem arabischen und dem afrikanischen Raum. Von den Funktionsträgern in Politik und Medien werden sie bis heute nicht als illegale Einwanderer bezeichnet, was sie im Regelfall sind, sondern als Flüchtlinge und Schutzsuchende, um deren Aufnahme als Gebot humaner Moral erscheinen zu lassen.

Eine der jüngsten und in ihren Weiterungen damals nicht absehbaren Umdeutungen betraf das Rechtsinstitut Ehe, das am 30. Juni 2017 im Bundestag handstreichartig „für alle“ geöffnet wurde. Der Ehe-Begriff, so argumentierte nicht nur der seinerzeitige Bundesjustizminister Heiko Maas, sei entwicklungsoffen. Da sich der Begriff gewandelt habe und die Ehe heute die dauerhafte Lebensgemeinschaft zweier Menschen beliebigen Geschlechts sei, bedürfe es auch keiner Änderung der Verfassung. Schließlich stehe dort nirgendwo, daß nur Mann und Frau eine Ehe eingehen könnten. Somit werde Heterosexuellen durch die „Ehe für alle“ nichts weggenommen. Mittlerweile hat das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz die Ehe für alle geöffnet.

Auch der Begriff Familie ist längst grundlegend neu interpretiert worden. Galt es seit alters her als selbstverständlich, daß Familie den Dreiklang Vater-Mutter-Kind(er) bedeutet, ist sie heute der „Ort, wo Kinder sind und Menschen füreinander Verantwortung übernehmen“ – ob im Patchwork-Verbund, als Alleinerziehende oder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit „zwei Müttern“ oder „ zwei Vätern“. Auch diese Umdeutung ist das Produkt des Linksliberalismus, der sich aus hedonistischem Individualismus und linkem Egalitarismus speist.



Mit seinem moralisierenden Furor erinnert jener Linksliberalismus an antike Vorbilder: Um 450 v. Chr. hatte sich aus der von Athen ausgehenden Aufklärung die Sophistik entwickelt, deren bedeutendster Stichwortgeber Protagoras war. Dessen berühmter, doch vielfach mißdeuteter Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ mündete letzten Endes in einen schrankenlosen Relativismus der bis dahin geltenden Werthaltungen. Ist nämlich jeder einzelne das Maß der Dinge, die ja für alle Individuen in tausendfältiger Verschiedenheit erscheinen, so stellt sich die Frage, woher die Maßstäbe für richtig und falsch, für gut und schlecht genommen werden sollen, die das je Individuelle überwölben und für jeden verbindliche Normen begründen. Heutige Parolen wie „Es ist normal, anders zu sein“ und „Vielfalt statt Einfalt“ hätten auch die griechischen Sophisten formulieren können.

In der längst auch vom Karlsruher Verfassungsgericht vorgenommenen Um- und Neudefinition der Begriffe Volk und Nation offenbart sich, worauf der nach wie vor in Judikative, Legislative und Exekutive dominierende Linksliberalismus in letzter Konsequenz zielt: den Umbau Deutschlands in eine „bunte Republik“, in der die Autochthonen zur Minderheit unter Minderheiten werden. Was das bedeutet, hat der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in einem Interview mit dem Generalanzeiger vom 25. August 2015 in dankenswerter Klarheit ausgesprochen: Die Deutschen müßten sich vom Bild einer Nation lösen, „die sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig“. Ziel, so die Kolumnistin Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung, sei es, daß aus dem nationalen Wir ein „globales Wir“ wird.

Wer vor Überfremdung etc. warnt, muß sich in linksliberalen Feuilletons als Verschwörungstheoretiker abkanzeln lassen, der „Umvolkungsmärchen“ verbreite. Dabei reicht in jeder größeren Stadt ein Gang durch die Fußgängerzone oder eine Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, um das Narrenspiel des dekadenten Zeitgeistes zu durchschauen. Bereits 1997, lange vor Gender-Sprech und Cancel-Culture, hat Botho Strauß konstatiert:

„Die Unmasse an Albernheit bedrückt nur deshalb so stark, weil wir als Demokraten dazu erzogen sind, an allem und jedem uns gemeinsinnig beteiligt zu fühlen und auch dort noch lebhaft Anteil zu nehmen, wo Heerscharen von Lemuren ihre Späße treiben.“

Peter Kuntze

Kuntze wurde 1941 in Kiel geboren und hat nach Abitur und Wehrdienst eine verlagskaufmännische Lehre in Hamburg absolviert. Anschließend ein Redaktionsvolontariat in Ansbach. 1968 gelang ihm der Sprung nach München zur Süddeutschen Zeitung, wo er als außenpolitischer Nachrichtenredakteur sein Brot bis 1997 verdient hat. Nebenbei schrieb Kuntze etliche Kinderbücher, zwei Romane und acht politische Sachbücher über China. Seine konservative Wende geschah in den letzten Berufsjahren.

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