Ich habe mir heute die vor knapp zwei Monaten herausgekommene Netflix-Serie „Baby Reindeer“ zu Ende angesehen. Eigentlich hatte ich, obwohl ich die Prämisse einladend fand, vor zwei Wochen bereits abgebrochen, als die zweite Folge der Miniserie ihrem Herausgeber weltanschaulich gerecht zu werden schien, indem der Protagonist, der bis dato als vielleicht etwas verschrobener, aber grundsätzlich sauber tickender Sympathieträger präsentiert wurde, sein Herz an einen Transformer verschenkte. Frustriert twitterte ich, dass das Erscheinungsdatum mir wohl Warnung genug hätte sein sollen und ich mir dann lieber weiter angucke, wie FDP-Politiker aus Aalen öffentliche Toiletten ablecken und ihr Gesicht mit ihren eigenen Exkrementen beschmieren.
Antworten von Leuten, die die Serie bereits in Augenschein genommen hatten, deuteten jedoch an, dass die Sachlage sich hier ein wenig komplizierter darstellt als die übliche Normalisierung von sexueller Degeneration. Die ist sicherlich auch am Start und mehr als nur ein Hintergedanke der Produzenten gewesen, als sie besagten Transformer als die wohl normalste und introspektivste Figur der Serie zeichneten, aber eben nicht nur die. Wie Antworten auf meinen Tweet mich nämlich wissen ließen, beruht die Serie auf einem realen Fall und blieb diesem, zumindest was die Quelle des Verlangens der Hauptfigur nach Männern in Frauenkleidern angeht, fast schon gefährlich treu.
Die Beziehung mit dem Transformer selber wird einem zunächst so normiegerecht und Mainstreamnarrativ-freundlich verfüttert, wie man es sich nur ausmalen kann: Ens ist mental ausgeglichen, rücksichtsvoll und erwachsen. Wäre ens Charakter eine tatsächliche Frau, würden die Kritiken wohl (zu Recht) an der Abwesenheit von Schwärze, von Ecken und Kanten herummäkeln. Dass es eine nahezu unlösbare Aufgabe wäre, einen echten Menschen zu finden, der sein eigenes Geschlecht nicht akzeptiert und sich seine Genitalien abschneiden möchte, davon abgesehen aber so was wie ein Zen-Meditation praktizierender menschlicher Labrador ist, weitestgehend frei von Neurotizismus und mit einem gesunden, stabilen Selbstbewusstsein, weiß jeder, der sich auch nur oberflächlich, aber ehrlich mit dieser bemitleidenswerten Personengruppe auseinandergesetzt hat.
Nachdem die Beziehung in die Brüche geht (ens macht natürlich mit ihm Schluss), dauert es keine Woche, bis der nächste Mann gefunden ist, der beim „-in“-Teil von „Freundin“ erstaunlich flexibel ist. Auch das kein Abbild der echten Welt und ein wenig paradox, da das einzige gravierende Problem in der Beziehung darin besteht, dass die Transfeindlichkeit der Gesellschaft immer wieder aus dem Unterbewusstsein des Protagonisten in der Form von Schamgefühlen an die Oberfläche getrieben wird und ihnen die Intimität ruiniert. Die Botschaft: Eigentlich haben viele Männer Bock auf Axtwunde, aber sie haben Angst, wie das bei ihren Jungs (oder Eltern) ankommen könnte. So weit, so auf Netflix-Linie.
Die rote Pille wartet aber in der durchaus mit brutaler Ehrlichkeit durchleuchteten Vergangenheit der wie erwähnt tatsächlich existenten Hauptfigur. Der Protagonist, der sich in der Haupthandlung mit einer psychisch kranken, fetten Stalkerin herumschlagen muss, ist angehender (oder bereits gescheiterter, wie man‘s nimmt) Comedian. Dass das amerikanische Showbusiness, in das er mit aller Gewalt eindringen will, mit Perversen jedweder Spielart, seien es Vergewaltiger, Drogen- und Sexorgien feiernde Buchstabenmenschen oder Pädophile, gesättigt ist, ist spätestens seit Ep- und Weinstein ja kein Geheimnis mehr.
In seinen frühen Jahren kommt er mit einem erfolgreichen Produzenten in Kontakt, der eine Mentorrolle für ihn einnimmt und ihn gleichzeitig an exzessiven Drogenkonsum heranführt. Dieser findet in der Wohnung des Comedy-Gurus statt und endet meist in Besinnungs- oder sogar Bewusstlosigkeit des Protagonisten, der am nächsten Morgen oft feststellt, dass während dieser Dämmerzustände sexuelle Übergriffe geschehen, die letztlich sogar in einer analen Vergewaltigung münden. Zeitgleich beginnt der bis dato eine normale, heterosexuelle Beziehung führende Hauptcharakter, auch einvernehmlich eine Tadzio-Müller-eske Schwulenszene für sich zu entdecken, nachdem er zunächst überrascht ist, Gefallen an schwuler Pornografie zu finden.
Dass eine maßgebliche Ursache für Buchstabenvorlieben in sexuellen Traumata liegt, ist sicherlich keine These, die die Verantwortlichen bei Netflix vertreten, geschweige denn an den Mann bringen wollten. Allerdings bleibt dem Zuschauer am Ende kaum ein anderer Schluss übrig. Doch während es in unseren politischen Breitengraden ein offenes Geheimnis ist, dass Missbrauchsopfer sich nicht zufällig unter Schwulen und Transsexuellen derart häufen, hat der Mainstream überhaupt kein Narrativ, was den Ursprung sexueller Andersartigkeit angeht. Genetisch kann es ja kaum sein, denn nichts ist genetisch, das wäre ja biologistisch. Traumata können es auch nicht sein, denn das würde es in die Nähe psychischer Störungen rücken. Die Umwelt kann es auch ganz allgemein nicht sein, denn das würde der rechten Verschwörungstheorie „Crossdressing an den Kitas macht die Kinder schwul/trans” zu viel Kredibilität geben. Also ist man „born that way”, aber nicht im „Es gibt so was wie Schwulen-Gene”-Sinne, sondern nach dem Motto: „Eine schwule Fee hat die im Mutterleib geküsst oder was weiß ich, denkt einfach nicht weiter drüber nach”.
In einem Interview bringt der Hauptdarsteller, auf dessen Leben die Miniserie basiert, sein unzureichend beherztes Vorgehen gegen die Stalkerin dann mit gesellschaftlich erlernter „Heteronormativität” in Zusammenhang, à la: Wenn er die Irre gewähren lässt, muss er sich weniger selbst eingestehen, auf Transformer zu stehen. Die Quelle dieser Vorliebe selber, Ihr könnt es Euch denken, wird nicht weitergehend thematisiert.
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