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Technik und Mythos – Turner und Spitzweg

11. Dezember 2022

Von Wolfgang Thurmann

Der grandiose englische Maler William Turner (1775-1851) schuf mit seinem 1844 entstandenen Gemälde „Regen, Dampf und Geschwindigkeit“, heute in der Londoner „National Gallery ausgestellt, gleichsam eine Ikone der neueren Kunstgeschichte. Bereits 1825 wurde die Eisenbahnlinie von der „Great Western Railway“ zwischen London und Bristol fertiggebaut und für den Personenverkehr freigegeben. Man stelle sich nur vor, das war also 10 Jahre nach der Schlacht bei Waterloo!

Turners Bild erweckte, wie stets, ziemliches Aufsehen und Kritik beim durchwegs noch konservativen Publikum. Der Künstler stellt hier in einer höchst radikalen Weise, was Technik und Farbe anbelangt, einen heranbrausenden Zug mit geradezu rotglühender Lokomotive dar, der eben die Maidenhead-Brücke überquert, und dies bei höchst diffusem Wetter, wo sich Regen Rauch und Nebel zu vermischen scheinen. Überhaupt erscheint das ganze Kunstwerk wie ein Vorgriff auf Impressionismus, aber auch Futurismus zu sein! Mit Sicherheit hat Turner diese dramatisch anmutende Situation vor Ort skizziert, um sie später im Atelier fertig zu stellen. Was er damit wohl zeigen wollte, war das zunächst noch Unheimliche der Technik, aber auch deren letztlichen Triumph, der sich in der ganzen Dynamik des Geschehens widerspiegelt.

Ganz anders geht der deutsche Maler Carl Spitzweg (1808-1885) mit diesem Thema um. Zwar ist es das gleiche Sujet, das der Münchner Maler sich nur vier Jahres später vornimmt, doch hat er darüber eine fundamental andere Auffassung. Erst 1835 kam es zur ersten deutschen Zuglinie zwischen Nürnberg und Fürth, der sogenannten Ludwigseisenbahn. Bezeichnenderweise fehlte der Namensgeber König Ludwig I. bei der Einweihung, der eher kunstsinnig als technisch affin war.

Spitzweg, ursprünglich Münchner Apotheker, wusste, wie man Farben zu mischen hatte und so malte er im schönsten Bayrisch-blau geradezu altmeisterlich den Ausblick hinunter ins Tal, wo eine fast liliputhafte Bahn vorbeidampft. In einem grün-braunen Höhleneingang steht ein Zwerg in gedeckter Kleidung, und zeigt dem Betrachter mit verschränkten Händen seine Halbseite zu. Die ganze Haltung hat etwas unnachahmlich Skeptisches und Abwartendes, ja Ablehnendes. „Gnom, Eisenbahn betrachtend“ (1848) ist eigentlich gegenüber Turners Gemälde ein Winzling. Gerade einmal 24,0 x 14,7 cm misst es und ist – wie bei Spitzweg so oft – auf einen hölzernen Zigarrendeckel aufgebracht. Obwohl geradezu emblematisch für die Kunst Carl Spitzwegs, hat es um vergleichsweise geringen Preis den Weg in eine Privatsammlung gefunden.

Die erste, ganz aus Gusseisen konstruierte Brücke überspannte übrigens schon1779 einen englischen Fluss. In deutschen Landen hingegen wurde da noch gemauert und gezimmert. Der Autor und Kunstkritiker Florian Ilies bezeichnete bereits 2008 Spitzwegs Darstellung als sein „vielleicht verrücktestes Gemälde“, indem er dieses mit Turners verglich und solcherart seine Mutmaßungen anstellte. Illies Interpretation klingt wohl ziemlich schlüssig, denn er meint, dass Spitzweg seine grundsätzlich idyllisch-romantische Haltung damit selbst aufs Korn genommen hätte. Die sichtlich technikkritische Positur des Zwerges, der höhlenhafte Standort, ja seine förmliche Ängstlichkeit gegenüber dem Fortschritt und der Moderne wären vor allem satirisch gemeint. Nun hat man Spitzweg tatsächlich die längste Zeit als reinen Idyllen-Maler missverstanden, ebenso wie z. B. auch Franz Schubert als biedermeierlichen Komponisten schönen Liedguts ohne jegliche weiteren Abgründigkeiten.



Tatsächlich hat auch Britannien seine Märchen, Legenden und Mythen übergenug aufzuweisen, nur scheint es, dass man dort daraus früher erwacht war und den unumkehrbaren technischen Fortschritt dann vor allem auch machtpolitisch einsetzte.  Turners Bild kündet von der nationalen Faszination technischer Erfindung, während Spitzwegs Darstellung just im Jahr der deutsch-österreichischen Revolution auf einen Rückzug ins eigentümlich Mythologische rekurrierte! Hat dies Carl Spitzweg wirklich ernst gemeint?

Man weiß es nicht, hier scheint sich vielleicht doch aufklärerische Ironie mit einer typisch (?) deutschen Melancholie etwa eines C. D. Friedrich zu verbinden. Der technische Vorsprung der Briten war immerhin völlig evident, was ja bereits Erzherzog Johann von Österreich bei seinen diesbezüglich investigativen England-Besuchen 1815/16 sehr genau erkannt hatte. Einige Jahrzehnte später sollten dann schließlich auch die Eisenbahnverbindungen für die großen Kriege ab 1853 bis 1871(und natürlich weitere) hüben wie drüben von großer strategischer Wichtigkeit werden.

Auch die Gebrüder Grimm dokumentierten, ja garantierten mit ihren Publikationen von Märchen, Mythen und Sagen – und sie waren wahrlich nicht die Einzigen – im 19. Jahrhundert, dass Deutschland noch lange nicht aus seinen Tagträumereien erwacht war, was umso merkwürdiger und grotesker anmutet, da doch jenes großartige Zeitalter das der deutschen Erfinder, Entdecker und Forscher war, denen die Welt so unendlich vieles zu verdanken hat! Und so stehen beide Gemälde dieser höchst eigentümlichen Künstler geradezu erratisch und schier rätselhaft vor dem Betrachter, das vergleichsweise große und jenes viel kleinere. Sie erzählen vom Schicksalhaften der Mythen, Zivilisation, Akkulturation und Geopolitik und zeugen so von der mentalen Grundverschiedenheit beider Nationen.

Gastautor

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