Die vergessene kleinstaatliche Tradition Deutschlands

22. Juni 2021
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Von Dr. Th. F. Ritter

Die Kleinstaaten, die über Jahrhunderte das Gesicht Deutschlands prägten, sind heute fast aus dem kollektiven Gedächtnis des deutschen Volkes verschwunden. Und das, obwohl deren Auflösung in größeren staatlichen Gebilden noch nicht einmal einhundert Jahre zurückliegt.

1947 schloß sich als letzter verbliebener Kleinstaat, der Freistaat Lippe, mit seiner Hauptstadt Detmold dem ein Jahr zuvor durch die britische Besatzungsmacht geschaffenen Bundesland Nordrhein-Westfalen an. Als kümmerlicher Rest dieser deutschen Tradition könnte heute höchstens noch das Saarland gesehen werden, das aber nicht über eine jahrhundertelange Eigenstaatlichkeit verfügte. Bremen, Hamburg und Berlin zählen ebenfalls nicht zu den Kleinstaaten, da sie keine Flächen- sondern Stadtstaaten sind.

Kulturelle Blüte

Der Historiker Heinrich von Treitschke beurteilte den Verdienst der Kleinstaaten in seinem Hauptwerk „Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ folgendermaßen: „Unsere Kultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts“.

Als Grund dafür sieht er an, daß sie „von der Ernsthaftigkeit des Staates“ nie etwas verstanden hätten. Doch wer waren diese Staaten, die bis 1918 ein eigenes Herrscherhaus nebst Hofhaltung hatten und vor der Reichsgründung vollständig souverän waren?

Als am 18. Januar 1871 im Spiegelsaale von Versailles das Deutsche Reich gegründet wurde, gab es unter den 25 Bundesstaaten 14 Kleinstaaten. Sie alle besaßen im Bundesrat nur je eine Stimme und teilten sich in drei Großherzogtümer, fünf Herzogtümer und sieben Fürstentümer auf.

Souveränität, nicht ohne Kompromisse

Trotz der allmählichen Zentralisierung des Reiches konnten alle Kleinstaaten ihre Souveränität bewahren und blieben auch finanziell unabhängig. Eine Ausnahme bildet das Fürstentum Waldeck-Pyrmont, das seine Verwaltung in Folge der zu zahlenden Steuern an das Reich bereits 1867 an Preußen übertragen hatte.

Alle einzelstaatlichen Armeen waren in das preußische Heer eingegliedert und unterstanden dem preußischen König. Das Post- und Eisenbahnwesen lag ebenfalls in preußischer Hand. Auf anderen Gebieten hingegen bewahrten sich die Kleinstaaten ihre politische Hoheit, wodurch sie in der Lage waren eigene Akzente innerhalb des Reiches zu setzten. Diese fanden teilweise sogar europa- und weltweite Anerkennung.

Herausragende Beispiele für kulturelle Höchstleistungen sind das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach und das Herzogtum Sachsen-Meiningen. Beispielsweise erlangte die 1860 gegründete Großherzoglich-Sächsische Kunstschule in Weimar hohe Bedeutung, da an ihr bedeutende Künstler lehrten und von ihr unter anderem Innovationen für die Landschaftsmalerei ausgingen. Das Meininger Hoftheater unter Leitung des regierenden Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen erlangte ebenfalls eine große kulturelle Bedeutung. Es beeinflußte die europäische zeitgenössische Theaterwelt nachhaltig und reiste europaweit zu Gastspielen. Als die „Meininger“ sind sie in die Theater-Geschichte eingegangen.

Fortschritt durch Wettbewerb, Wettbewerb durch Vielfalt

Auch auf politischen Gebiete gelang es einzelnen Kleinstaaten als eigenständige Akteure hervorzutreten und dadurch reichsweite Aufmerksamkeit zu erlangen. So konnte zum einen ein regierender Fürst beispielsweise mit politischen Denkschriften in die aktuellen Diskurse eingreifen. Andererseits bestand die Möglichkeit, daß Regierungspositionen an Vertreter von verfemten politischen Parteien oder Positionen vergeben wurden. Auch hier sollen kurz zwei Beispiele angeführt werden.

Der bis zum Jahre 1893 regierende Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (dem „Gestüt Europas“ wie Bismarck das Herrscherhaus auf Grund seiner dynastischen Verflechtungen nannte) identifizierte sich mit den liberalen Ideen seiner Zeit und suchte diese sowie die deutsche Einigung aus liberalem Geiste heraus zu fördern. Verfolgten Liberalen bot er in seinem Herzogtum Unterkunft und eine Anstellung in hohen Staatspositionen.

Nach der Gründung des Reiches behielt Ernst II. diese Praxis bei. Der Gegenentwurf hierzu ist Heinrich XXII. Reuß älterer Linie, der den Liberalismus entschieden bekämpfte und sich als einziger Bundesfürst offen zum Legitimismus – also zur Unabsetzbarkeit eines angestammten Herrscherhauses – bekannte. Er unterstützte Parteigänger der 1866 von Bismarck entthronten Dynastien und deren Presse.

In einer Zeit des zunehmendem Zentralismus wird der Föderalismus als hinderlich betrachtet und allmählich entkernt. Doch ermöglicht er, daß in einem Staate ein Wettbewerb der Ideen stattfinden kann. Erfüllen wir die föderale Tradition Deutschlands wieder mit Leben.

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