Im Krieg, so heißt es, sei das erste Opfer die Wahrheit. Diese Sentenz gilt auch im Ukrainekrieg – für beide Seiten: sowohl für den als Aggressor verdammten russischen Präsidenten als auch für seinen Widerpart Selenskyj und den gesamten ihm Beifall klatschenden Westen. Es ist daher hilfreich und ratsam, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich hin und wieder historische Fakten in Erinnerung zu rufen.
In seinem 1997 veröffentlichten Buch The Great Chessboard (auf deutsch 1998: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“) hatte Zbigniew Brzezinski die Politik beschrieben, die die USA nach dem Kollaps des Ostblocks und dem damit verbundenen Niedergang Rußlands einschlagen sollten, um ihre Position als führende Weltmacht zu behalten. Hauptschauplatz, so der einstige Sicherheitsberater Präsident Jimmy Carters, werde Eurasien sein, wobei die Ukraine die Schlüsselrolle spiele:
„Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr….Wenn Moskau allerdings die Kontrolle über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen und wichtigen Rohstoffen sowie den Zugang zum Schwarzen Meer zurückgewönne, würde Rußland automatisch wieder in die Lage versetzt, ein mächtiger und imperialer Staat zu werden, der sich über Europa und Asien erstreckt.“
Um einen von Moskau dominierten eurasischen Block zu verhindern, so Brzezinski, müsse die Ukraine daher dauerhaft von Rußland getrennt werden. Der amerikanische Politikwissenschaftler George Friedman machte auf eine weitere strategische Notwendigkeit aufmerksam, indem er 2015 daran erinnerte, daß die USA seit mehr als hundert Jahren das Ziel verfolgten, eine Allianz zwischen Deutschland und Rußland zu verhindern, da die Kombination aus russischen Bodenschätzen und deutscher Ingenieurskunst die größte Gefahr für Amerikas globale Hegemonie sei. An diesen Bestrebungen hat sich bis heute nichts geändert.
Völkerrechtswidrig, so tönt es zu Recht unisono im Westen, sei Putins Überfall auf die Ukraine, völkerrechtswidrig sei aber auch die per „illegalen“ Referenden erfolgte Einverleibung ukrainischer Gebiete im Osten und Süden (Lugansk, Donezk, Saporischja und Cherson), völkerrechtswidrig sei bereits 2014 die Eingliederung der Krim gewesen. Bis heute stimmen Deutschland und die EU lautstark zu. Doch im Gegensatz zu den USA scheinen die Europäer nicht ins Kalkül zu ziehen, daß sich seit 1991, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die weltpolitische Lage zwar grundlegend verändert hat, Europas geografische Lage aber unverändert geblieben ist: Mit rund 150 Millionen Einwohnern ist Rußland nicht nur das bevölkerungsreichste Land des Kontinents, sondern mit 17 Millionen Quadratkilometern der flächenmäßig größte Territorialstaat der Erde. Er verfügt über ein Zehntel der weltweiten Agrarfläche, ist der größte Getreideexporteur und besitzt nahezu sämtliche Industrie-Rohstoffe, darunter 25 Prozent der globalen Gasreserven.
Was also lag Anfang der neunziger Jahre näher als eine Zusammenarbeit zwischen der EU und ihrem kontinentalen Nachbarkoloß? Zweimal machte Putin den Europäern ein entsprechendes Angebot: 2001 in einer auf deutsch gehaltenen Rede im Bundestag; 2007 plädierte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz für einen „gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“. Doch das Echo war, zur Erleichterung der USA, kühl bis ablehnend. Als sich Rußland am 18. März 2014 nach einem Referendum die Krim mit ihren mehr als zwei Millionen Einwohnern einverleibte, führte dieser einhellig als Bruch des Völkerrechts verurteilte Akt zum endgültigen Riss, ohne den historischen Hintergrund zur Kenntnis zu nehmen.
Unstrittig ist, daß sich das Zarenreich unter Katharina der Großen im ersten russisch-türkischen Krieg 1774 mit der Eroberung der Krim erstmals den Zugang zu einem „warmen Meer“ sicherte – ein schon von Peter I. angestrebtes Ziel. Als „Neurußland“ (Noworossija) gliederte Katharina die Gebiete im Osten und Süden der heutigen Ukraine – also jene Ländereien, die Putin jetzt annektierte – ihrem Reich ein und ließ sie durch Anwerbung russischer Interessenten und ausländischer Kolonisten besiedeln. 1802 wurde Noworossija eine Provinz des Zarenreiches und blieb bis 1917 integraler Bestandteil Rußlands.
Erst die Bolschewiki traten die Region an die 1919 neugebildete „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ ab – warum, das wisse „nur Gott“, erklärte Präsident Putin im April 2014. Genauso schleierhaft sei nicht nur ihm das Motiv des damaligen sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow, der 1954 die Krim seiner ukrainischen Heimat zum Geschenk machte. Von Völkerrecht und UN-Charta war damals nicht die Rede. Es war daher keine „billige Propaganda“, wie manche meinten, als Putin am 21. Februar, drei Tage vor dem Einmarsch in das Nachbarland, die historischen Fakten rekapitulierte:
„Die moderne Ukraine wurde vollständig von Rußland geschaffen, genauer gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Rußland. Dieser Prozeß begann praktisch unmittelbar nach der Revolution von 1917… Die sowjetische Ukraine ist das Ergebnis der Bolschewiki und kann zu Recht als ˋWladimir Lenins Ukraine ´ bezeichnet werden. Er war ihr Schöpfer und Architekt.“
Und in der Tat: Von einer staatlichen Existenz der Ukraine war noch keine Rede, als Rußland unter Zarin Katharina das nördliche Ufer des eisfreien Schwarzen Meeres endgültig gewonnen, damit die natürliche Grenze im Süden erreicht und sie dauerhaft gesichert hatte. Das Recht der freien Schiffahrt ins Mittelmeer hat sich Moskau seitdem nicht mehr streitig machen lassen. Als sich die moderne Ukraine 1991 erstmals für unabhängig erklärte, gab es für beide Seiten reichlich Gelegenheit, die Streitfragen Krim und Noworossija friedlich zu lösen – sei es durch eine von den Vereinten Nationen rechtlich garantierte Neutralität der Ukraine, sei es durch ein geopolitisches Arrangement zwischen Kiew und Moskau, das den Interessen beider Staaten entgegenkommt.
Für Amerikas Strategen kann die heutige Situation kaum günstiger sein: Rußland ist geschwächt und im Westen, nicht zuletzt in Deutschland, völlig isoliert. Viele US-Politiker plädieren daher dafür, Kiew bis zum letzten ukrainischen Kämpfer zu unterstützen – mit Waffenlieferungen in Milliardenhöhe sowie mit politischen und militärischen Projekten der CIA. Man muß kein Verschwörungstheoretiker sein, wenn man bei den Sabotageanschlägen auf die beiden Gasröhren in der Ostsee auch an die USA denkt, denn ihnen waren ebenso wie Polen und der Ukraine Nord Stream 1und 2 stets ein Dorn im Auge. Selbst der Berliner Ampelkoalition kommen die mysteriösen Explosionen nicht ungelegen, entziehen sie doch den immer lauter werdenden Forderungen nach Öffnung der Pipelines ein für allemal die technische Grundlage.